ANDREW JOHN FLETCHER
Andrew John Fletcher, "Fletch" oder "Andy", von Martin auch schon mal "An" genannt,
(ich werde ihn "Fletch" nennen, um Verwechslungen wegen des gleichen Anfangsbuchstabens
mit Alan zu vermeiden), wurde am 08.07.1961 in Nottingham geboren.
Vater John (er starb 2009) arbeitete als Ingenieur, Mutter Joy war Hausfrau.
Schwester Susan wurde ungefähr 1964 geboren, Karen etwa 1966, Bruder
Simon etwa 1976. (Ich habe dazu keine genauen Jahreszahlen gefunden, nur
einige Artikel, die den Altersabstand erwähnten.) Einigen Quellen zufolge starb Karen
1986 an Magenkrebs, es gibt hierzu jedoch keine Zitate von Fletch. Zu finden
sind lediglich einige Gerüchte, dass die Depressionen, unter denen Fletch später litt,
auf die manisch-depressive Erkrankung des Vaters und den frühen Tod der Schwester
zurückzuführen seien. Da ich dazu aber keine offiziellen Bestätigungen finden konnte,
werde ich mich mit Spekulationen zurückhalten.
In den frühen Jahren der Band waren britische Journalisten derartig auf die Verbindung
zu Basildon fixiert - so, als sei es eine Art Wunder, dass man eine Band in einer
solchen Stadt gründen könne -, dass sie einfach davon ausgingen, jedes der Mitglieder
sei dort geboren. Tatsächlich wurde kein einziges (ehemaliges) Mitglied dort geboren.
In Fletchs Fall war der Geburtsort Nottingham.
"Wir zogen nach Basildon, als ich zwei Jahre alt war",[1] erzählt Fletch in
einem der vielen frühen "Wer ist wer und woher kommt ihr eigentlich?"-Artikeln. "Wenn
man dort einen Job bekam, konnte man ein Haus bekommen.[2] Meine Eltern gehörten zu den
Ersten, die in den frühen 1960er Jahren nach Basildon zogen, als die Stadt
gerade erst im Entstehen begriffen war.[3] Aber in den 1970ern begann die Sache,
schief zu laufen - die Stadt wuchs sehr schnell und irgendwann gab es keine Jobs mehr.
Als ich dort aufwuchs, gab es noch Felder, Fußball, Cricket, Landschaft - aber dann
wurde alles komplett verbaut.[4] Und als die Fabriken schlossen und die Arbeitslosigkeit
wuchs, wurde es eine gewalttätige, unsichere Stadt."[5]
Basildon teilte also das Schicksal vieler britischer Städte in den 1970ern.
Daraus entstand die Punkbewegung, die die soziale, modische und musikalische Landschaft
komplett verändern sollte. Vielleicht wären DM ohne die Punkwelle niemals so populär
geworden. Nach Punk konnte man nahezu alles machen. Punk ermöglichte so seltsame Blüten
wie New Wave, Post Punk oder Neue Romantiker.
Aber zurück zu Fletch. Obwohl er seine Heimatstadt durchaus kritisch sah, fühlte er
sich dennoch stark mit Basildon verbunden, und es dauerte lange, bis er wegzog.
Durch die Methodistenkirche war er stark in das soziale Leben eingebunden.
"Mit der Kirche kam ich zufällig in Kontakt, als ich acht war. Mein Vater meinte, ich
sollte bei der Boys' Brigade mitmachen, damit ich Fußball spielen konnte."
Er war Mitglied bei der Boys' Brigade, (es ist nicht ganz leicht, dies konform zu
deutschen Verhältnissen zu setzen - Boys' Brigade ist eine Mischung aus Pfadfindern
und dem CVJM - Christlicher Verein Junger Männer), bis er 17 oder 18 war, und er
ging praktisch jeden Tag zur Kirche. Allerdings muss dazu gesagt werden, dass man
auch nur dann an den angebotenen Aktivitäten teilnehmen konnte, wenn man zur Kirche ging.
1985 erzählt er: "Ich bin nicht länger praktizierender Christ, aber es liegt
mir immer noch im Blut."[6]
Für eine lange Zeit war Religion jedoch ein wichtiger Teil seines Lebens. "Vince Clarke und
ich versuchten ständig, Atheisten von Gott zu überzeugen. Vince war die Nummer drei
in der Hierarchie der Missionierer, obwohl er heute ein totaler Atheist ist."[7]
Fletch kannte Martin aus der Schule, aber er kam erst wirklich mit ihm in
Kontakt, als er ihn dazu brachte, mit zur Boys' Brigade zu kommen.
"Ich besuchte die Nicholas Gesamtschule und war in der gleichen Klasse wie Martin
Gore und Alison Moyet."[8] Lange Zeit dachte er, er hätte Martin zum Glauben bekehrt,
doch der kam nur wegen des Gesangs und der Atmosphäre mit. Allerdings muss diese
Zeit Martin geprägt haben, da viele seiner Songtexte einen religiösen Hintergrund
aufweisen, wenngleich er "Religion" etwas anders definiert.
(mit freundlicher Genehmigung von © Jérôme Pouille)
"Erst, als ich etwa 14 war, kam ich durch die Kirche zur Musik. Es war dort, als
ich zum ersten Mal eine Gitarre in die Hand nahm."[9]
Später entstanden hieraus jene Bands, aus denen wiederum eines Tages DM hervorgehen
sollte. "Mit etwa 16 war ich Mitglied meiner ersten Band, No Romance in China, mit
Vince Clarke, und wir versuchten, wie The Cure zu klingen. Wir mochten ihre
Imaginary Boys LP, und Vince versuchte, wie Robert Smith zu singen. Wir gingen
immer zu einem Club, der Van Gogh hieß. Martin spielte in einem Gitarrenduo, das
sich Norman and the Worms nannte. Auch Alisons Gruppe The Vandals war dort oft.
Später schlossen Martin, Vince und ich uns zusammen und übten im Woodlands Jugendclub.
Dort entstand die frühesten Depeche-Songs wie zum Beispiel Photographic."
Aus dieser Zeit stammen auch die Motive für Blasphemous Rumours.
"In unserer Kirche gab es eine Gebetsliste für Leute, die krank waren, und man betete
für sie, bis sie starben. Als Martin mir das erste Mal Blasphemous Rumours
vorspielte, war ich geschockt. Ich kann verstehen, warum einige Leute den Song
nicht mögen."
1979 machte Fletch Abitur im Fach Politik und wollte eigentlich studieren,
begann dann aber eine Ausbildung bei der Sun Life Versicherungsgesellschaft.
Leider verriet er nie, weshalb er sich gegen ein Studium entschieden hatte.
"Die Leute bei der Arbeit nahmen meine Band nicht ernst, bis zu dem Moment, in dem
Dreaming of Me in die Charts einstieg, gefolgt New Life. Das war sehr
seltsam. Ich spielte bei Tops of the Pops oder gab ein Konzert, sagen wir mal,
in Leeds, und dann ging ich am nächsten Tag zur Arbeit. Es fing an,
schwierig zu werden."[10]
Wenn man es genau nimmt, so ist Fletch auch heute noch so etwas wie ein
Sachbearbeiter. "Mein ganzes Leben dreht sich um Zahlen", sagt er 1993, "ich
finde Musik machen nicht sonderlich aufregend. Ich bin ein nutzloser Musiker. Als
ich Bass spielte, hatte ich nie Ambitionen, ein großartiger Bassspieler zu werden.
Als ich mit dem Keyboard anfing, hatte ich nie Ambitionen, ein großartiger
Keyboardspieler werden zu wollen. An der Band finde ich immer noch am spannendsten,
ein Produkt zu entwickeln und dieses zu verkaufen, das Marketing, die Promotionarbeit.
Ich finde es interessant, unsere Produkte zu verkaufen."[11]
Seine Rolle führte zu einigen Spannungen innerhalb der Band - besonders zu Zeiten
von SOFAD - und sie spaltet die Fans bis heute in drei Lager. Die eine Gruppe
kann sich DM nicht ohne ihn vorstellen und sieht in ihm auch einen Musiker, die
zweite Gruppe kann sich DM nicht ohne ihn vorstellen, sieht ihn aber nicht als Musiker,
und die dritte Gruppe fragt sich, wofür der Mann eigentlich gut ist, zumal die Band
natürlich schon lange ein professionelles Management hat, das sich um Marketing,
Promotion und Vertrieb kümmert.
Trotz des recht ausschweifenden Lebens in den mittlerweile über 30 Jahren Bandgeschichte
ist es wohl dennoch nicht falsch, zu sagen, dass Fletch sehr bodenständig
geblieben ist. "Mein Privatleben abseits der Musik ist eher schlicht. Wenn ich
ausgehe, mache ich Dinge wie Snooker oder Fußball spielen. Wenn ich kann, sehe
ich mir ein Spiel von Chelsea an. Ich lese viel, interessiere mich für politische
Geschichte. Ich bin sehr patriotisch und konservativ. Ich weiß, dass einige Leute
das für falsch halten, aber ich kann es nicht ändern."[12]
Dieses Zitat stammt aus dem Jahr 1985, aber ich denke, dass sich Fletch
im Prinzip nicht großartig verändert hat. Noch immer mag er Fußball und Politik,
und er steht gern früh auf, um sich den Sonnenaufgang anzusehen.
Heute ist Fletch mit Grainne verheiratet und lebt in London. Tochter Megan wurde
1991 geboren, Sohn Joseph 1994.
(Notiz: Obwohl die Bandmitglieder ab und zu etwas über ihre Familien und
Kinder erzählen, und obwohl einige Familienmitglieder eigene Twitter-Accounts und
öffentliche Facebook-Seiten haben, werde ich nicht auf das Privatleben der Bandmitglieder
eingehen, solange es nicht irgendeinen Zusammenhang zur eigentlichen Bandgeschichte
gibt.)
Quellenangaben:
[1] Entnommen aus: A Broken Frame Tour Programme, 1982. Autor: Andrew Fletcher.
[2] Entnommen aus: Just Can't Get Enough, Uncut, Mai 2001. Autor: Stephen Dalton.
[3] Entnommen aus: Andy Fletcher: The Brigade Boy, No. 1, 18.05.1985. Autor: Andrew Fletcher.
[4] Entnommen aus: Just Can't Get Enough, Uncut, Mai 2001. Autor: Stephen Dalton.
[5] Entnommen aus: Songs of Innocence and Experience, Mojo, November 2005. Autor: Danny Eccleston.
[6] Entnommen aus: Andy Fletcher: The Brigade Boy, No. 1, 18.05.1985. Autor: Andrew Fletcher.
[7] Entnommen aus: Hanging in the Balance, NME, 26.03.1983. Autor: Matt Snow.
[8] Entnommen aus: Andy Fletcher: The Brigade Boy, No. 1, 18.05.1985. Autor: Andrew Fletcher.
[9] Entnommen aus: A Broken Frame Tour Programme, 1982. Autor: Andrew Fletcher.
[10] Entnommen aus: Andy Fletcher: The Brigade Boy, No. 1, 18.05. 1985. Autor: Andrew Fletcher.
[11] Entnommen aus: Mope Now, Party Later, Musician, Oktober 1993. Autor: Jon Pareles.
[12] Entnommen aus: Andy Fletcher: The Brigade Boy, No. 1, 18.05.1985. Autor: Andrew Fletcher.
Biografiefaden: Martin Lee Gore