1998 und 1999
Am 09.03. erschien mit Stalker / Missing Piece eine zweite Recoil-Single.
Am 02.09. - ja, bis dahin gab es absolut nichts zu hören und zu sehen von der
Band, abgesehen von der Pressekonferenz in Köln, bei der die Tour angekündigt wurde -
startete DM mit dem Konzert in Tartu (Estland) die Singles-Tour. Die Tournee gliederte
sich in zwei Teile. Der europäische Teil umfasste 32 Konzerte und endete am 17.10.
Alan wurde auf der Bühne von nun an durch den österreichischen Schlagzeuger Christian
Eigner und den britischen Keyboarder Peter Gordeno ersetzt. Dies ist bis heute die
Bühnenbesetzung.
Nachdem Devotional so desaströs ausgefallen war, gab sich die Band Mühe, die
Singles-Tour ja nicht ausarten zu lassen.
Martin: "Wir haben Regeln aufgestellt. Ich trinke nur noch zweimal in der
Woche, auch wenn andere darüber vielleicht lachen."
Dave war vor dem Start der Tournee sehr nervös: "Nun, ich sitze hier und
versuche verzweifelt, meinen Körper davon abzuhalten, zu zittern ... Aber ich denke,
es ist gut, nervös zu sein. Nervöse Energie kann man in die Performance einbringen.
Für mich ist das sehr wichtig. Wenn ich nicht nervös wäre, würde etwas nicht stimmen,
aber ja, ich bin sehr nervös."[1]
Dann kam er aber doch ganz gut zurecht und gewöhnte es sich an, nach den Konzerten
umgehend ins Bett zu gehen. "Ich habe ein Level erreicht, auf dem ich mir selbst
vertrauen kann, aber nicht komplett. Um ehrlich zu sein, ich bin nach den Konzerten
jetzt so müde, dass ich danach sofort ins Bett gehe und nach fünf Minuten einschlafe."[2]
Die Tournee verlief sehr gut. Während des Soundchecks des ersten Konzerts in Tartu
fand folgende Unterhaltung statt: "Gutes Publikum heute ... und viele
Flaggen. Ich sollte mir vielleicht eine Union Jack greifen und mir umbinden." -
"Oh, sehr patriotisch, Dave." - "Nicht wirklich, es ist die, die am nächsten dran
ist und mir ist sch***kalt."
Dieses Mal gab es nur kleine Zwischenfälle, wie sechs Stunden lang in einem russischen
Dorf festgehalten werden, während Zollbeamte irgendwelchen Papierkram sortierten,
eine Erkältung, die durch die Crew wanderte, Probleme mit den Trucks an der Grenze
zu Österreich, starker Regen in Berlin, Stimmprobleme in Zürich und das Konzert
in Birmingham, bei dem Martin erst gegen Ende der Show bemerkte, dass der
Reißverschluss seiner Hose offen war.[3]
(Surrender - mit freundlicher Genehmigung von © Wojciech Welc)
Zwischendrin wurden am 07.09. die Single Only When I Lose Myself / Headstar / Surrender veröffentlicht, für die man noch mal mit Tim Simeon zusammengearbeitet hatte. Neben den Originalversionen der drei Songs wurden viele verschiedene Remixe veröffentlicht. Headstar ist ein Instrumentalstück, während Only When I Lose Myself und Surrender jeweils von Dave gesungen wurden. Das Video zu Only When I Lose Myself wurde von Brian Griffin gedreht.
Am 28.09. wurden The Videos 89-98 und The Singles 89-98
veröffentlicht.
Bei diesen Veröffentlichungen war natürlich auch Alan involviert, aber er sprach dabei
nicht mit den Bandmitgliedern direkt (nur via Plattenfirma und Management usw.),
obwohl er auf gleiche Weise an der Auswahl der Versionen / Songs, visueller
Präsentation, Promotion, Marketing etc. beteiligt war. Und er wurde von den meisten
Journalisten ignoriert.
Alan: "Ich habe mich selbst nie in den Vordergrund gedrängt, als ich noch
Mitglied der Band war, und die Medien neigen dazu, sich auf den Frontmann und den
Songwriter zu konzentrieren - für die wenigsten Leute ist der 'Technik-Freak' im
Studio interessant. Ich bin auch nicht dem Tod von der Schippe gesprungen, und ich
habe das Verbrechen begangen, die Band zu verlassen - also: aus den Augen, aus dem
Sinn. Ich kann das durchaus akzeptieren, aber es hat mich schon geärgert, dass die
DM Singles E.P.K. sehr unausgewogen war. Zehn Jahre harte Arbeit in 30
Sekunden innerhalb eines 20 Minuten langen Films abzuhandeln, ist ziemlich beleidigend.
Ich wurde auch von dem Interview mit Anton Corbijn ausgeschlossen (man sagte mir
noch nicht einmal etwas davon), in dem die anderen Bandmitglieder seine Videos für
die Singles diskutierten - also die Singles, an denen ich mitgearbeitet hatte."[4]
Der amerikanische Teil der Tour begann am 27.10., umfasste 33 Konzerte und
endete am 22.12. in Anaheim.
Dave: "Vor dieser Tour dachte ich, vielleicht wäre es das Letzte, was wir
zusammen machen. Ich war bereit, danach was anderes zu machen, und es war absolut
okay für mich. Während der Tour realisierte ich, wie sehr ich es liebe, live zu
spielen. Die Unterstützung, die mir jeden Abend seitens der Fans entgegen gebracht
wurde, war überwältigend."[5]
Fletch: "Es war großartig. Wir fühlten uns wieder als Band, keine dummen
Streitereien, kein Ego-Sch***."[6]
Man kann und sollte das als eine allgemeine Bemerkung ansehen, zumal jeder der
Bandmitglieder mehr oder weniger zugegeben hatte, während der Devotional extrem egoistisch
agiert zu haben. Sieht man sie jedoch im Zusammenhang mit den Ultra-Interviews,
könnte man auch auf die Idee kommen, dass sie sich gegen Alan richtete. Kein Wunder,
dass manche Fans glauben, er sei rausgemobbt worden, denn er schien in dieser Zeit
für nahezu alles verantwortlich gemacht zu werden, was schiefgelaufen war.
Für einige Fans war die neue Form der "nüchternen" (ab der zweiten Hälfte der
Touring the Angel sogar komplett, als Martin das Trinken aufgab) Liveperformance,
die DM seither bieten, nicht unbedingt das Gelbe vom Ei. Es gab einige Veränderungen:
Alan war nicht mehr dabei, ein permanentes Liveschlagzeug, ein neuer Livekeyboarder,
alles war etwas rockiger und konventioneller.
So mancher Fan bedauert im Vergleich, dass sie "etwas von ihrer früheren Magie
verloren" hätten und besonders oft mokiert man sich über die "schlechteren
Liveversionen", die heute gespielt werden, womit vor allem gemeint ist, dass sie
einfallsloser seien.
Es gehen jedoch auch die Fans zu den Konzerten, die sich hinterher darüber beklagen,
dass "der Gordeno nervt", "die visuellen Effekte früher viel eindrucksvoller" waren,
es alles "so einstudiert" wirke und "Daves Stimme früher besser war." Die Band ist
trotz allem immer noch faszinierend und besitzt etwas Hypnotisches, von dem sich
die "alten" Fans - und wenn sie noch so "nörgelig" sind - anscheinend nicht losreißen
können. Es zieht auch immer noch neue, junge Fans an, die das DM mit Alan überhaupt
nicht kennen. Sie erliegen diesem speziellen Charisma und kommen davon so schnell
nicht wieder los. Viele finden, dass "die Interaktion mit den Fans und auf der
Bühne heute besser" ist und dass "Martin sich enorm weiterentwickelt" habe. Auf den
Punkt gebracht ist es "immer noch ein großes Erlebnis, sie live zu sehen."
Einige Fans sagen, DM sei "eine Lebensphilosophie", ich habe eher den Verdacht,
es handelt sich um eine Droge. Sie ziehen ein großes Publikum an und können Stadien
füllen, ein Fakt, den man nicht ignorieren kann, wenn man über DM-Live-Shows
diskutiert.
(mit freundlicher Genehmigung von Mute/EMI)
1999 heiratete Dave zum dritten Mal, Jennifer, und wurde zum zweiten Mal
Vater, von Stella Rose. Obendrein nahm er Jimmy, den Sohn Jennifers, als seinen
an (offiziell adoptiert hat er ihn erst 2010), sodass er nun drei Kinder
"sein eigen" nennt.
Ebenfalls 1999 bekam Martin den Ivor-Novello-Award von der Britischen Akademie
für Komponisten und Songschreiber verliehen - vermutlich der einzig gute und sinnvolle
Preis, den DM jemals erhalten haben, zumal sie ansonsten immer recht stiefmütterlich
behandelt werden, wenn es um Auszeichnungen geht.
Quellenangaben:
[1] Entnommen aus: 20.04.1998 Depeche Mode Press Conference, Bong 36, Juni 1998. Autor: unbekannt.
[2] Entnommen aus: Cleaning Up, Q, November 1998. Autor: Nick Duerden.
[3] Informationen wurden entnommen aus: Singles Diary, Bong 40, Juni 1999. Autor: Jez Webb.
[4] recoil.co.uk
[5] Entnommen aus: In the Mode for Love, Time Out, 04.04.2001. Autor: Omer Ali.
[6] Entnommen aus: The Basildon Bond, The Times Magazine, 14.04.2001. Autor: Paul Connolly.