1983
Im Januar gingen DM erstmals gemeinsam mit Alan ins Studio. Sie arbeiteten
mit den Toningenieuren Eric Radcliffe und John Fryer zusammen und nahmen in den
Blackwing Studios in London auf. Das Ergebnis erschien am 31.01.: die Single
Get the Balance Right / The Great Outdoors!
Während Get the Balance Right nicht auf Construction Time Again erschien,
wurde es für die amerikanische Compilation People Are People und
The Singles 81-85 verwendet. Die B-Seite, The Great Outdoors!,
ein Instrumentalstück, bei dem neben Martin auch Alan als Komponist genannt wird,
wurde teilweise als Intro während der Broken Frame-Tour eingesetzt. Die Single erreichte
Platz 13 der UK-Single-Charts.
(Übrigens: Ich wurde gefragt, ob Get the Balance Right jemals live gespielt
wurde. - Ja, der Song war Teil der Setliste auf dem letzten Teil der Broken Frame-Tour
und der Construction Time Again-Tour1983/84. Danach wurde es nie mehr live gespielt.)
Alan: "Interessant ist, dass dies das erste Mal war, dass wir uns darauf
konzentrierten, eine Dance 12" zu produzieren. Obwohl auch schon für vorherige
Veröffentlichungen Remixe erstellt worden waren, war dieser stark auf die Clubs
ausgerichtet."[1]
Zunächst war die Band natürlich darum bemüht, etwas Positives über ihre neue
Single zu sagen.
Martin: "Ich denke, Get the Balance Right ist um einiges härter,
kraftvoller und direkter. Es ist auch recht düster. Ich denke, unser neues Material
ist mehr auf den Punkt, behandelt allgemeinere Themen, mit denen jeder etwas
anfangen kann, anstatt doch eher persönliche Texte zu haben."[2]
Dave: "Get the Balance Right sagt den Leuten, dass sie ihren eigenen
Weg gehen sollen. Es enthält auch eine kleine Spitze gegenüber Leuten, die anders
sein wollen, nur um des Anderssein Willens. Man muss vielmehr die Balance zwischen
Normalität und Verrücktheit finden."[3]
Später wurde dann nach und nach klar, dass sie mit Get the Balance Right alles
andere als glücklich waren. Vor allem Alan war sehr selbstkritisch: "Ich denke,
ich habe keinen großen Unterschied hineingebracht. Ich habe es wahrscheinlich eher
schlechter gemacht."
Martin: "Nun, es ist wohl die Single, die wir am wenigsten mögen. Es war
die Hölle, sie aufzunehmen.[4] Die Dinge liefen plötzlich sehr schlecht für uns, vor
allem in den Medien - es musste so kommen. Keine Überraschung, nur ein bisschen
ärgerlich, besonders, wenn dich Leute mochten und dich aus dem gleichen Grund plötzlich
nicht mehr mögen. Vorher konnte man nichts falsch machen, nun kann man nichts
richtig machen."[5]
Auch das Video dazu kann man nicht gerade als Meisterwerk bezeichnen. Obendrein
erscheint Alan am Anfang des Videos singend vor der Kamera, weil der Regisseur
ihn für den Leadsänger hielt. "Dies passierte, weil der Regisseur nicht wusste, wer
der Sänger der Band ist und aus irgendeinem Grund zu dem Schluss kam, ich sei es.
Es war uns zu peinlich, ihn auf seinen Fehler hinzuweisen."[6]
(Construction Time Again - mit freundlicher Genehmigung von © Tupid)
Nachdem die Band am 07.02. einen Ausflug zur Musikmesse in Frankfurt
unternommen hatte, begab sie sich vom 24.03. bis zum 10.04. auf den letzten
Teil der Broken Frame-Tour, der 11 Konzerte umfasste und sie zunächst in die USA
führte und schließlich nach Asien - nach Tokio, Hongkong und Bangkok.
Dave: "Der Japan-Trip kam praktisch aus dem Nichts. Wir sind dort noch nie
gewesen, aber wir verkaufen dort massenhaft Platten, daher dachten wir, es wäre wohl
das Beste, dort mal ein paar Konzerte zu geben."[7]
Alan: "Über die Jahre gab es immer mal wieder Situationen, in denen wir auf
internationalen Flughäfen regelrecht überrollt wurden. Ich erinnere mich besonders
an die Szenen, als wir zum ersten Mal nach Japan und Hong Kong reisten, und dort
Chaos entstand, als wir versuchten, unser Gepäck einzusammeln und den Flughafen
zu verlassen."[8] (Er spricht hier natürlich von besonders aufregten Fanmassen. ;))
Vor allem die Eindrücke aus Asien flossen in die Songs ein, die Martin nun schrieb.
Dave: "Wir haben dort Sachen gesehen, die schlimmer sind, als alles, was wir
je gesehen hatten. Als wir Leute betteln sahen, und kleine Kinder, die zu uns kamen,
mit dreckigen Klamotten am Leib, sich anbietend oder ihre Hände nach Essen
ausstreckend ... Wenn man das erfährt, beginnt man, zu verstehen, in was für einer
glücklichen Position wir alle hier sind. Wir waren in diesem wirklich teuren Hotel,
voll mit Geschäftsleuten, aber sobald man rausging, war es eine total andere Welt."[9]
Hieraus würde die Presse später einen "sozialistischen" Hintergrund konstruieren,
meinte, die Songs auf Construction Time Again hätten einen "Arbeiterklassehintergrund"
und trügen "Weltverbesserungsgedanken" etc.
Jahrelang bemühte sich die Band mehr oder weniger erfolglos darum, zu erklären, dass
Construction Time Again kein "politisches Album" sei, sondern die Texte einfach
aufgrund dieser Erlebnisse entstanden seien.
Alan: "Ich denke, die politisch motivierten Songs aus der frühen DM-Phase
hatten mehr etwas mit dem Alter zu tun, als dass sie dazu gedacht gewesen wären,
ein Statement abzugeben. Wir hatten nie eine gemeinsame politische Sichtweise. Wir
hatten alle (auch durch unsere verschiedenen Hintergründe bedingt) ganz unterschiedliche
Ansichten über die meisten Dinge. Und abgesehen von den Songs auf
Construction Time Again wird man schwerlich andere Lieder finden, die
politisch motiviert waren."
Im Mai begannen die Aufnahmen zu Construction Time Again in den
Garden-Studios von John Foxx in London, gemeinsam mit Daniel Miller und Gareth
Jones. Die neue Bandkonstellation ergab, dass sich Fletch fortan mehr um die
organisatorische Seite kümmerte, während Alan den Großteil der musikalischen Aufgaben
übernahm. Es war der Beginn der Team-Arbeit. Jeder versuchte, seinen Platz bzw.
seine Rolle zu finden.
Während einige Interpretationen suggerieren, es hätte von Anfang an Probleme
mit Alans Rolle im Studio gegeben, sagt Alan: "Ich hatte keine Probleme damit,
eingebunden (und akzeptiert) zu werden. Die anderen stellten sich nicht quer, was
das Studio anging. Am ehesten kann man sagen, dass Daniel Miller die Studioarbeit
kontrollierte."
Weiterhin hielt die Sampling-Technik Einzug, wobei sie von Toningenieur Gareth Jones
unterstützt wurden, der sie dazu ermutigte, einen Industrial-Sound zu kreieren.
Alan: "Das Album markierte den Beginn des Einsatzes von Emulator und
Synklavier, und ich denke, es markierte auch den Wendepunkt in der Geschichte DMs.
Es war eine sehr kreative Zeit.[10] Es gibt einen Track auf dem Album, der Pipeline
heißt. Darin wurde eine Menge ungewöhnlicher Percussion verarbeitet. Was wir gemacht
haben, war, rauszugehen und auf allem herumzuschlagen, was wir finden konnten."[11]
Fletch: "Wir haben auf Wellblech und alten Autos herum getrommelt. Der
Gesang wurde in einer Eisenbahnunterführung in Shoreditch aufgenommen - man hört bei
Dreiviertel der Aufnahme einen Zug sowie ein Flugzeug. Es
ist sehr interessant, so etwas zu machen."[12]
Angeblich soll schon während dieser ersten gemeinsamen Studioarbeit deutlich geworden
sein, wie unterschiedlich die Charaktere waren. Während Alan sich eher der ernsthaften
Garde - Miller und Jones - anschloss und versuchte, möglichst viel über die technische
Seite zu lernen, sollen Fletch und Martin oft herumgealbert und Fletch und Dave sich
ständig über irgendetwas gestritten haben.
Allerdings erscheint mir diese Darstellung etwas zu überspitzt und einseitig. Es gibt
ein Zitat von Alan dazu, doch es wirkt aus dem Zusammenhang gerissen. Es wird der
Eindruck dreier ernsthaft arbeitender Erwachsener erweckt, die sich vom Lärmen
dreier spielender Kinder gestört fühlen. Dies wird so sicherlich nicht ganz der
Realität entsprochen haben und widerspricht auch den bandinternen Videoaufnahmen,
die zwar eine entspannte Atmosphäre mit einigen Jokes zeigen, jedoch nicht den
Eindruck erwecken, als hätten Fletch, Martin und Dave absolut NIE irgendwas im
Studio gemacht.
Auch Gareth Jones' Darstellung ergibt einen leicht abweichenden Eindruck:
"Daniel [Miller] war viel damit beschäftigt, Sounds zu kreieren, ähnlich wie Martin
und Alan, der die Hauptrolle in der Produktion seitens der Band einnahm. Alan war
stark daran beteiligt, wenn es um das Kreieren des Studio-Produkts ging, ein sehr
musikalischer Mensch, sehr interessiert am Programmieren von Beats und überhaupt
allen Aspekten der Studioarbeit. Es gab also ein Trio im Studio, mit Alan, der
die Band repräsentierte, Daniel, der alles zusammenhielt, und mir, der für die
technische Seite zuständig war. Nachdem Martin einen Song geschrieben hatte,
fand er es wohl ermüdend, endlos mit Synthesizern herumzuspielen und verschiedene
Versionen aufzunehmen. Vielleicht waren wir einfach zu langsam für ihn. Dave war
sehr engagiert und arbeitete hart an sich, wollte seinen Part unbedingt gut machen.
Er nahm nicht am Editieren des Gesangs teil, weil er es wie viele Sänger so empfand,
als würde man seine Performance auseinanderreißen und zerstören.[13] Als ich in den
1980ern mit der Band arbeitete, hatten alle eine sehr gute Beziehung zueinander.
Alan war der Neue in der Band, aber wir alle hatten eine wundervolle, kreative Zeit.
Jeder kam gut mit jedem aus. Okay, es gab manchmal Diskussionen oder Streitereien,
aber das gibt es in jeder Beziehung. Ich hatte auch mal eine Auseinandersetzung
mit Fletch, aber das war schnell vergessen. Was ich gesehen habe, war eine
sehr kreative und relaxte Arbeitsbeziehung."[14]
Construction Time Again war das erste Album, das in den Berliner Hansa Studios abgemischt wurde. Hiermit begann ein Abschnitt, in dem sich vieles ändern und durch den die Geschichte DMs mehr oder weniger bis heute mit Berlin verknüpft werden würde. Es gibt auch heute noch einige Artikel, die die Berlin-Verbindung erwähnen. Es war weiterhin eine Art "Geburtsstunde" des "wahren Depeche Mode."
An dieser Stelle scheint es angebracht, kurz die Welten zu beleuchten, in denen die
Band zu Hause war - für Leser aus anderen Kulturen und für jene, die einfach zu jung
sind, um viel über die 1970er und 1980er zu wissen.
Die Bandmitglieder selbst waren hauptsächlich im England der 1970er Jahre aufgewachsen.
Es war ein schwieriges Jahrzehnt in Großbritannien. Es war ein Jahrzehnt der Streiks -
Postangestellte, Minenarbeiter, Müllmänner, viele Branchen waren in Schwierigkeiten und
kämpften um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen. Viele Fabriken, Werften und Kohlebergwerke
wurden geschlossen, die Arbeitslosenquote schnellte in die Höhe. Besonders Nordengland
war betroffen, aber auch eine typische Arbeiterstadt wie Basildon betraf das.
Die politische und gesellschaftliche Krise war natürlich auch Plattform für seltsame
Mode, musikalische Attitüden und neue Stilrichtungen wie Glam Rock, die Punkbewegung
und schließlich New Wave Anfang der 1980er. Viele Dinge änderten sich in dieser Zeit
und brachten neben einem Haufen Probleme auch neue Erfahrungen und neue Möglichkeiten.
Ich denke, es ist falsch, die 1970er in Großbritannien als so düster anzusehen,
wie es viele Leute tun,
genauso wie es falsch ist, sie als allzu positiv anzusehen, wie es andere Leute tun.
Für die Arbeiterklasse war es definitiv ein schwieriges Jahrzehnt, und viele Städte
- wie Basildon - verarmten zusehends. Ich selbst war nie in Basildon, habe aber einige
Zeit in britischen Städten gelebt, die in den 1970er von der Krise schwer getroffen
worden waren, und die sich auch Ende der 1980er noch nicht davon erholt hatten. Sie
waren wirklich desolat, pleite und langweilig, ohne Perspektiven oder Abwechslung
für die Jugend. Auf diese Weise haben die Bandmitglieder auch Basildon beschrieben.
Abgesehen von Alan, der in einem Mittelklasseumfeld in London aufgewachsen war, hatten
die Bandmitglieder bis zu dem Moment, in dem sie Basildon verließen und Konzerte
im Ausland spielten, nicht viel über die Welt gewusst und sie erst recht nicht gesehen.
Daher muss West-Berlin wie ein Kultur-Schock für sie gewesen sein. In den frühen
1980ern war West-Berlin eine Art seltsame Insel, umschlossen von der "verbotenen Zone"
Ostdeutschlands. Die Welt befand sich zu dieser Zeit noch im sogenannten "Kalten Krieg"
und teilte sich in die "westliche Welt" und den "Ostblock" auf, und die Grenze zwischen
diesen beiden Welten verlief in der Mitte Deutschlands - mitten durch Berlin.
West-Berlin zog Künstler aller Art an, Hippies, (Umwelt)Aktivisten, Ökos, Punks und
Freaks. Auf der einen Seite war es eine Art Insel und ein großes Dorf (mit etwa zwei
Millionen Einwohnern), auf der anderen Seite war es eine wilde Stadt, in der immer
etwas los war.
Sie bot auch den Bandmitgliedern einiges, weshalb es wahrscheinlich kein Wunder ist,
dass diese Berlin-Verbindung entstand, auch wenn der Anfang eher unspektakulär war.
Dave: "Wir wollten einfach eine andere Atmosphäre. Wenn man die ganze Zeit an
einem Ort arbeitet, wird es ein bisschen langweilig."
Fletch: "Der Ingenieur [Gareth Jones] kannte die Hansa Studios. Also gingen wir
hin und sahen sie uns an. Zuerst haben wir die Single dort abgemischt, stellten fest,
dass es uns gefiel, also haben wir das ganze Album dort abgemischt."
Martin: "Das Mischpult war einer der Hauptgründe, um dorthin zu gehen: Es hatte
56 Kanäle. Es war das einzige Studio, das die Ausrüstung zu bieten hatte, die
wir brauchten."
In diesem Zusammenhang wurde auch die Frage des Jahres gestellt: Habt ihr die Berliner
Mauer besucht?
Alan: "Nun, wir haben direkt daneben gearbeitet. Man schaut aus dem Studiofenster
und da ist sie."[15]
Wenn man sich den Hintergrund der Bandmitglieder vor Augen führt, ist es wahrscheinlich
kein Wunder, dass Berlin eine große Veränderung in ihrem Leben darstellte.
Vor allem Martin, zumal er der deutschen Sprache mächtig ist, fühlte sich
dort sehr wohl. Er trennte sich von Freundin Anne - "Sie war eine gläubige Christin und
hatte mich wirklich an den Zügeln. Sie war lächerlich - alles war pervers. Wenn ich
fernsah, und dort war jemand nackt, dann war ich ein Perverser" - legte sich mit Christina
eine deutsche Freundin zu und "entdeckte die Freiheit."[16]
Diese "Freiheit" würde in den kommenden Jahren für einigen Wirbel sorgen. Einige
Journalisten dieser Zeit wunderten sich über den "plötzlichen Wandel" Martins.
1982 sah er noch aus wie ein braver Schuljunge, im Verlauf des Jahres 1983
wurde er "wild" und schien sich komplett zu verändern. Aber ich denke nicht, dass es
eine wirkliche Überraschung war. Er hatte sich in Basildon schrecklich gelangweilt,
und nun öffnete sich eine vollkommen neue Welt für ihn, die es ihm erlaubte, all
die Gefühle und Ideen auszuleben, die er vorher auch schon gehabt hatte, die er
jedoch in einer Umgebung wie Basildon nicht hatte umsetzen können.
Am 11.07. erschien die Single Everything Counts / Work Hard, der erste
Hit des neuen Quartetts. Sie erreichte Platz 6 der britischen Single-Charts und
Platz 23 in Deutschland, eine der bis dahin höchsten Platzierungen einer DM-Single
auf diesem Markt.
Es gab nur einen Remix von Everything Counts. Die 12"-Version der Single
trägt den Namen Everything Counts (In Larger Amounts). Die B-Seite,
Work Hard, ist der erste und einzige "richtige" Song (abgesehen von einigen
Instrumentalstücken und Remixen), der gemeinsam von Martin und Alan geschrieben wurde.
Hiervon gibt es noch einen Remix mit Namen East End Remix.
Everything Counts markierte nicht nur eine neue musikalische Ära, die Band
versuchte auch, ein neues visuelles Image zu finden (allerdings würde es noch mal
drei Jahre dauern, ehe sie nicht mehr "irgendwie seltsam" aussehen würden).
Alan: "Nach den Julian-Temple-Jahren war uns klar, dass wir nicht nur einen
härteren Sound brauchten, sondern auch unser Image aufpolieren mussten. Clive
[Richardson, der das Video zu Everything Counts in und um Berlin drehte] hatte
eine Menge neuer Ideen, die keine dämlichen Drehbücher beinhalteten."[17]
Martin erklärte, dass es in Everything Counts darum gehe, dass Unternehmen
so ausarten, dass Einzelwesen keinerlei Bedeutung mehr hätten, sodass jeder auf
ihnen herum trampeln könne. Ansonsten wollte er jedoch nur ungern etwas über seine
Songs sagen: "Es ist Sache der Leute, darin zu sehen, was sie wollen. Viele Leute
versuchen, mich dazu zu bringen, jede Zeile zu erklären, aber es entzaubert das etwas."[18]
Am 22.08. wurde das Album Construction Time Again veröffentlicht.
Der Titel bezieht sich auf die Zeile: get out of the crane, construction time
again (aus Pipeline).
Die Band war sehr stolz auf das Album und erklärte, sie hätten versucht, ernsthafte
und teilweise alarmierende Songtextthemen wie etwa die Möglichkeit eines nuklearen
Krieges (Two Minute Warning) mit leichten, eingängigen Melodien zu verbinden.
Ihnen gefiel die Idee, dass die meisten Leute die Melodie summen würden, ohne sich
Gedanken über die Bedeutung der Texte zu machen. Sie behaupteten, nun einen
einzigartigen Sound zu haben (hatten sie), was aber natürlich insofern lustig ist,
weil sie das auch schon über A Broken Frame gesagt hatten. In jedem Fall
fühlten sie sich nun sehr viel selbstbewusster und zufriedener, sodass sie mehr
Spaß an der ganzen Sache hatten. Es scheint, als hätte dieses Album eine Art
Befreiung dargestellt.
Dave: "Wenn ich mir die Tracks vom ersten Album anhöre, sind sie mir ziemlich
peinlich. Zu der Zeit dachten wir natürlich, sie seien großartig. Das zweite Album
war ein bisschen depressiv, weil wir uns so gefühlt haben, aber bei diesem war die
Stimmung im Studio definitiv gut![19] Wir sind jetzt auch zu einer Einheit geworden.
Ich denke, es ist ein Geschenk, dass wir so gut miteinander auskommen, und dass
wir genießen, was wir im Moment machen. Solange wir es genießen, werden wir
weitermachen. Sobald es keinen Spaß mehr macht, werden wir wohl nicht zusammenbleiben.
Ich meine, manchmal streite ich mich mit Fletch, aber das hat nichts mit der Musik zu
tun, die wir machen."[20]
(mit freundlicher Genehmigung von © Anja - compositionofsound)
Am 07.09. begann die Construction Time Again-Tour, die sich in drei Teile
aufsplittete. Der erste Teil umfasste 23 Konzerte in Großbritannien und endete am
08.10. in London.
Zwischendrin erschien am 19.09. die Single Love, in Itself / Fools.
Die Single beinhaltete drei Remixe des Songs. Love, in Itself.2 ist die
Single-Version von Love, in Itself.1 (die Album-Version). Love, in Itself.3
ist der Extended-12"-Mix. Love, in Itself.4 ist eine Lounge-inspirierte
Version des Songs, bei der das Klavier im Vordergrund steht. Die B-Seite, Fools,
gibt es außerdem noch als Extended-Mix: Fools (Bigger). Dieser Song wurde
von Alan geschrieben. Mute/L12Bong4 beinhaltet zudem noch Live-Versionen von
Just Can't Get Enough, A Photograph of You, Shout und Photographic,
die am 25.10.1982 im Hammersmith Odeon in London aufgenommen worden waren.
Das Video zu Love, in Itself wurde von Clive Richardson gedreht. Das Artwork
ist dem von Construction Time Again ähnlich.
Dave über Love, in Itself: "Das ist der sss-Song. Er hat einen sehr
sanften Gesang mit einem Haufen s drin. Er klingt schrecklich. Ich bin ein bisschen
enttäuscht davon, er hätte brillant sein können."[21]
Alan: "Es ist alles in allem ein etwas merkwürdiges Lied, nicht zuletzt,
da von dem Moment an, als wir es zum ersten Mal hörten, ein running gag entstand.
Denn die Verse erinnerten uns an ein Kinderlied - ich bin mir recht sicher, dass es
Ugly Duckling [das hässliche Entlein] war. Schließlich brachten wir Martin
dazu, zuzugeben, dass er den Song tatsächlich darauf aufgebaut hatte, und ich fürchte,
dass ich dieses Lied nie wieder hören und dabei ernst bleiben kann."
Und über Fools sagt er: "Er klingt nach mir, wenn ich versuche, einen Popsong
zu schreiben. Das ist etwas, was mir nicht wirklich liegt, weswegen ich es dann
auch gelassen habe, für DM Stücke zu schreiben oder es zu versuchen. Ich habe mich
damals dazu gezwungen, es mal zu versuchen, aber es fällt mir nicht leicht, Texte
zu einem Popsong zu schreiben, ich mag das nicht. Ich versuchte auch mal, Martin
dazu zu bringen, mit mir zusammen Songs zu schreiben, aber er meinte, auf diese
Weise könne er nicht arbeiten. Ich glaube, er hat einfach plötzlich eine Idee
für einen Song und dann ist er auch praktisch schon fertig."[22]
Übrigens - ich wurde mehrere Male gefragt, ob es Songs gibt, bei denen Alan die
Leadstimme hat. Er singt öfter mal eine Background-Stimme (man kann ihn z.B. gut
bei Everything Counts ausmachen), aber er hatte nie den Leadgesang. Er wurde
mal gefragt, warum das so sei, ob er vielleicht zu schüchtern sei.
Alan: "Zum Teil und zum Teil, weil ich finde, dass ich nicht die passende Stimme
für den Leadgesang habe. Ich kann eine zweite Stimme übernehmen, aber Leadgesang
habe ich nie in Erwägung gezogen."[23]
Der zweite Teil der Tour begann am 01.12. in Stockholm, umfasste 18 Konzerte
in Europa bzw. hauptsächlich in Deutschland, wo DM besonders gut ankamen, und endete
am 23.12. in der Musikhalle in Hamburg. Der dritte Teil der Tournee fand erst
1984 statt.
Dave: "Es gibt mir einen Kick, wenn das Publikum mitmacht. Wenn ich vom
Publikum nichts zurückbekomme, fühle ich mich schlecht. Ich denke, so geht es jedem.[24]
In Schweden waren wir ganz überrascht. Das Publikum war so herzlich. Zuerst waren
wir ein bisschen nervös, aber sie waren so freundlich. Und Berlin gestern war sehr,
sehr gut. Normalerweise ist Berlin sehr kalt, und die Leute stehen nur, aber alle
machten mit, und es machte viel Spaß."[25]
Kein Wunder, dass sie beschlossen, erst einmal nicht so auf Amerika fixiert zu sein.
Dort lief es einfach nicht für sie. Vermutlich war es Teil des Zeitgeistes. Etwas
später würde es in den USA eine Phase geben, in der britische Popbands "in" waren,
aber prinzipiell war das Interesse eher gering. Die meisten Amerikaner waren eher
auf Rockmusik fixiert. Daher entschieden DM sich dafür, sich stattdessen erst einmal auf
Deutschland zu konzentrieren, denn dort begannen sich die Dinge richtig gut für
sie zu entwickeln.
Fletch: "Um ehrlich zu sein, ist Amerika nicht alles, es ist nicht unser
Ziel. Im Moment ist Deutschland für uns wesentlich wichtiger. Deutschland ist der
Markt, den es zu erobern gilt."
Dave: "Es ist ein sehr aufregender Markt. Man kann zusehen, wie etwas
passiert, dass wir uns immer mehr entwickeln. Wir können sehen, dass wir jedes Mal,
wenn wir hier spielen, größer werden.[26] Es ist ein bisschen verrückt. Wenn wir in
deutschen Städten spielen, sorgt die Mund-zu-Mund-Propaganda dafür, dass alle wissen,
dass wir in der Stadt sind, so, als wären wir eine echt hippe Band. Mir gefällt das.
Es zeigt, dass unsere Musik bei den Leuten ankommt."[27]
Zu sagen, dass sie am amerikanischen Markt nicht interessiert waren, ist natürlich
nicht so ganz ehrlich. Sie schafften den Durchbruch dort einfach nicht. Doch anstatt
sich deswegen zu grämen, freuten sie sich eben darüber, dass sie nun in Deutschland
"groß rauskamen".
"Being big in Germany" war so eine Art Insiderwitz, denn auch dort würden sie trotz
allen Erfolgs immer eher eine Art Kultband bleiben, anstatt zu den großen Mainstreambands
zu zählen. Ich weiß, dass einige Leute sagen, dass sie inzwischen Mainstream sind,
aber ich denke nicht, dass man sie zu der gleichen Kategorie wie etwa Madonna oder
typische Chartmusik im Allgemeinen zählen kann. Die meisten Leute kennen sie und
können wenigstens einen Song (meistens Enjoy the Silence) benennen, und die
Band ist in der Lage, eine Stadion-Tour auszuverkaufen, und doch haben sie nie das
generelle Publikum erreicht. Die generelle Meinung über sie ist ziemlich seltsam
und eigenartig distanziert, sodass offensichtlich ist, dass über sie außerhalb
der Fankreise letztlich nicht viel bekannt ist.
Trotz des Erfolges hatten sie noch immer Probleme mit der Presse. Themen wie ihr
Image wurden immer und immer wieder aufgegriffen.
Martin: "Wir werden kaum ernst genommen, schon gar nicht von der Presse. Wir
glauben nicht, was die Presse schreibt",[28] aber es war dennoch schwer, damit umzugehen.
Sie wurden mit anderen Bands verwechselt, Reporter konnten sich die Namen der
Bandmitglieder nicht merken, mokierten sich über Daves "lahmen Tanzstil" - "Er ist nicht
lahm", verteidigte Alan ihn, "ich mag ihn. Ich könnte das sicher nicht so machen."[29]
- und fragten allen Ernstes immer noch nach Vince Clarke.
Fletch auf die Frage, ob er Vince noch mögen würde und was er von dessen
Musik halte: "Oh ja, ich mag ihn wirklich als Person. Ich meine, er war über viele
Jahre mein bester Freund, also kann ich ihn nicht hassen. Er hat mir auch nichts
getan, ich komme immer noch gut mit ihm aus. Bei der Musik bin ich mir nicht so sicher."
Ob Vince denn versuchen könne, zu DM zurückzukehren?
Fletch: "Nein. Wir würden ihn auch nicht haben wollen, nie. Da gibt es keine
Chance, weißt du, weil wir ihn nicht zurücknehmen würden. Weil Alan zu ... wir
sind gut befreundet mit Alan, weißt du? Alan ist jetzt verwurzelt, und wir brauchen
Vince nicht."[30]
All dies führte zu einer gewissen Frustration, was die Presse anbelangte.
Alan: "Es ist, weil es nur die Sicht der Journalisten auf uns ist. Was immer
wir sagen, wird verzerrt, somit ist das, was die Leute über uns lesen, oft nicht korrekt."
Ich fürchte, das ist heute zum Teil immer noch so. Vermutlich ist dies der Grund für
die etwas eigenartige öffentliche Sicht auf die Band.
Und hier noch ein kleines Schmankerl zum Abschluss dieses Kapitels.
Fletch: "Wir haben immer noch keinen Plattenvertrag. Wir sind wirklich stolz
darauf, dass unser Deal mit Mute auf Vertrauen basiert, und wir sind stolz darauf,
dass wir morgen bei EMI unterschreiben könnten!"[31]
Dieser Satz ist natürlich insofern lustig, weil DM eines Tages zu EMI gehören würden,
nämlich dann, als Mute Records an EMI verkauft wurde.
Quellenangaben:
[1] Recoil.co.uk
[2] Entnommen aus: Modes to Freedom, Record Mirror, 22.01.1983. Autor: Betty Page.
[3] Entnommen aus: Depeche Mode - Nearly There, Smash Hits, 03.-16.03.1983. Autor: Peter Martin.
[4] Entnommen aus: Everything Counts (in Large Amounts), Number One, 19. Oktober 1985. Autor: Paul Bursche.
[5] Entnommen aus: Modes to Freedom, Record Mirror, 22.01.1983. Autor: Betty Page.
[6] Recoil.co.uk/depechemodebiographie.de
[7] Entnommen aus: Artikel in Poppix, 1982. Autor: unbekannt.
[8] Recoil.co.uk
[9] Entnommen aus: Coming up Smiling, The Face, Februar 1985. Autor: Sheryl Garratt.
[10] Recoil.co.uk
[11] Entnommen aus: New Life, No.1, 13.08.1983. Autor: Paul Bursche.
[12] Entnommen aus: Crushing The Wheels Of Industry, Meldody Maker, 07.01.1984. Autor: Lynden Barber.
[13] Entnommen aus: Artikel in Sound on Sound, Februar 2007. Autor: Richard Buskin.
[14] depechemodebiographie.de
[15] Entnommen aus: Enter the Countdown Mode, Record Mirror, 17.09.1983. Autor: Sharon Machola.
[16] Entnommen aus: Just Can't Get Enough, Uncut, Mai 2001. Autor: Stephen Dalton.
[17] Recoil.co.uk
[18] Entnommen aus: Modes to Freedom, Record Mirror, 22.11.1983. Autor: Betty Page.
[19] Entnommen aus: Red Rockers over the Emerald Isle, NME, 17.09.1983. Autor: X. Moore.
[20] Entnommen aus: Enter the Countdown Mode, Record Mirror, 17.09.1983. Autor: Sharon Machola.
[21] Entnommen aus: Everything Counts (in Large Amounts), Number One, 19.10.1985. Autor: Paul Bursche.
[22] Recoil.co.uk
[23] Entnommen aus: Interview auf KROQ, 17 April 1992. Interviewer: Richard Blade.
[24] Entnommen aus: Enter the Countdown Mode, Record Mirror, 17.09.1983. Autor: Sharon Machola.
[25] Entnommen aus: Interview 83, Mode7CD. Interviewer: unbekannt.
[26] Entnommen aus: Hanging in the Balance, NME, 26.03.1983. Autor: Matt Snow.
[27] Entnommen aus: New Life, No.1, 13.08.1983. Autor: Paul Bursche.
[28] Entnommen aus: Modes to Freedom, Record Mirror, 22.01.1983. Autor: Betty Page.
[29] Entnommen aus: Depeche Mode - Nearly There, Smash Hits, 03.-16.03.1983. Autor: Peter Martin.
[30] Entnommen aus: Interview 83, Mode7CD. Interviewer: unbekannt.
[31] Entnommen aus: Up For Grabs, Sounds, 20.08.1983. Autor: Johnny Waller.