2005
Am 17.01. begannen in Santa Barbara die Aufnahmen zu Playing the Angel,
wurden in New York und London fortgesetzt, und wie schon bei Exciter, stellte
man wieder einmal fest, dass man sich jetzt viel besser verstand.
Dave: "Das Seltsamste, das passiert, ist, dass wir gut miteinander auskommen.
Bei dem letzten Album fühlte es sich ein bisschen tot an. Dieses Mal reißen wir uns
alle viel mehr zusammen."[1]
Sogar Martin öffnete sich ein wenig, obwohl es schwierig war für ihn. "Die
erste Zeile von Damaged People lautet we're damaged people, drawn together
by subtleties we're not aware of." [Wir sind verletzte Menschen, zusammengebracht
durch Dinge, die wir nur unbewusst wahrnehmen.] "Und ich denke, das passiert
dysfunktionalen Leuten ständig, mir auch."[2]
In späteren Artikeln wurde deutlich, dass die Atmosphäre wieder einmal nicht so
großartig gewesen war, wie es sie behauptet hatten.
Dave: "Martin war die meiste Zeit betrunken."[3] Er gab zu, dass die Aufnahmen
zu Playing the Angel nicht rundum toll gewesen waren. "Wenn er ins Studio kam,
wussten wir, wir hatten ein paar Stunden: Er ist jetzt nur ein wenig betrunken,
er wird sich weiter betrinken. Ben Hillier gab ihm eine Gitarre und trieb ihn an,
um so viel aus ihm herauszubekommen, wie er nur konnte."[4] Denn später würde
Martin so betrunken sein, dass er zu nichts mehr zu gebrauchen war.
So gab es letzten Endes nicht so viele Änderungen.
Dave: "Pain and Suffering in Various Tempos war der ursprüngliche
Titel des Albums. Während der ersten Aufnahmesession kam jemand von unserer
Plattenfirma vorbei, wollte wissen, ob wir schon einen Titel hätten. Hatten wir
natürlich nicht. Ich habe dann gescherzt: 'Es geht wie immer um Schmerz und Leid.'
Und der Typ ergänzte: 'Vermutlich in verschiedenen Tempi.' Und das lassen wir jetzt
auf die Rückseite des Albums drucken."
Der Titel, der dann tatsächlich gewählt wurde, bezieht sich auf den Song
The Darkest Star, in dem die Zeile oh, you sad one, playing the angel
[oh, du Trauriger, gibst vor, ein Engel zu sein] vorkommt.
Während sich die Art, das Album zu produzieren, und die Hauptthemen nicht so sehr
von Exciter unterschieden, war neu, dass Dave drei Songs zum Album
beisteuerte. "Es geht darin zum Beispiel darum, dass ich noch immer keine Gefühle
zulassen kann. Es gibt diese Seite in mir, die ein wenig seltsam ist. Ich könnte
nie einen Song über den euphorischen Beginn einer Beziehung schreiben, wenn alles
toll und rosarot ist. Ich kann nur schwer mit der Liebe umgehen, die mir entgegen
gebracht wird. Egal, ob von meiner Familie oder von Freunden. Vielleicht bin ich
im Leben einmal zu oft enttäuscht worden. Ich habe ja eigentlich alles. Ich erfahre
Liebe, aber ich nutze dieses wundervolle Angebot oft nicht, weil ich vieles nicht
an mich heranlasse. Ich habe Angst, meine Seele zu öffnen und mich völlig hinzugeben -
um nicht enttäuscht zu werden. Mein Leben ist dadurch schwieriger, als es sein
müsste. Vielleicht liegt der Grund in irgendeiner Schuld in meinem Unterbewusstsein,
tief eingegraben in meiner Kindheit. Ich weiß es nicht. Meine Frau versucht dann,
mich aufzumuntern und gerade zu rücken. Wir sind uns in dieser Hinsicht sehr ähnlich.
Es ist kein Zufall, dass man sich mit Menschen umgibt, mit denen man solche
Gefühle teilen kann."[5]
(The Darkest Star - mit freundlicher Genehmigung von © Justin Lim)
Und sie hatten einen neuen Produzenten, Ben Hillier. Dieser stieß nicht überall auf
Gegenliebe, vor allem nicht bei den Musikfans unter den "Devotees". Die Band hatte
natürlich eine andere Meinung dazu.
Dave: "Depeche Mode hatte schon immer einen speziellen Sound, und es ist nicht
leicht, sich davon zu lösen. Er ist einfach da. Aber Ben Hillier, unser Produzent,
führte uns in eine vollkommen neue Richtung. Und das macht es so aufregend, mit
Leuten wie ihm zu arbeiten. Wir wollten mit jemandem arbeiten, der uns zu
Experimenten antreibt."[6]
Martin: "Ben war nicht unbedingt ein Fan unserer Musik. Er kannte ein paar
Songs, und wir haben ihm den ganzen Backkatalog zum Hören gegeben. Er hatte eine
echte Idee, wie er die Sache anpacken wollte, und er war da wirklich aggressiv,
und ich denke, wir brauchten das."[7]
Er war auch gut darin, "den ganzen Sch*** zu durchbrechen, der sich zwischen
Familienmitgliedern so aufbauen kann", erklärt Dave. "Er sah sehr schnell,
wer welche Rolle spielte und sagte: 'Das ist lächerlich.' Wir wollten jemanden
haben, der als eine Art Rektor agierte. Aber er war mehr wie der Kunstlehrer -
weißt du, derjenige, der einem im Geräteraum eine Zigarette rauchen lässt."[8]
Und es scheint, als hätte Dave ihn ein wenig als Komplizen benutzt, um
seine Idee vom geteilten Songwriting durchzusetzen, denn Hillier sollte die Songs
für das Album auswählen. "Zu diesem Zeitpunkt hatte Martin vielleicht fünf Songs
geschrieben und ich etwa 15. Das wurde zu einer Art Katalysator, um Martin
dazu zu zwingen, mehr Songs zu schreiben, denn er wollte mehr von seinen auf dem
Album haben. Das war der Punkt, an dem ich sagte: 'Du musst mehr Songs schreiben,
ansonsten müssen wir meine nehmen.'"[9]
Er setzte Martin also offenbar etwas unter Druck, dem es zu dieser Zeit nicht so
besonders gut ging und wirklich unter seiner Scheidung litt. "Wenn mich Leute treffen,
dann sind sie, glaube ich, erstaunt, festzustellen, dass ich nicht immer angstgetrieben
bin. Aber ich denke, alles, was ich schreibe, kommt aus meiner Seele. Ich setze
mich hin und kreiere eine Atmosphäre, spiele Gitarre oder Klavier und singe, was
immer mir in den Sinn kommt. Ich schreibe keine Verse und füge sie in die Musik ein.
Ich lasse die Dinge fließen."[10]
Er versuchte, anders zu arbeiten als früher, legte mehr Wert auf die Atmosphäre
der Songs. Dave hingegen war noch im Lernprozess und musste für sich gute
Arbeitsmethoden finden. "Ich bin ungeduldig. Das ist mein Problem. Ich vergesse
Sachen sehr schnell. Ich habe diesen Typen in New York, der mir hilft und überall
Listen verteilt hat: 'So nimmst du einen Gesang auf', 'So richtest du das Mikrofon
aus' oder 'So stellst du das Keyboard ein.' Ich habe diese Listen überall und
schaffe es trotzdem immer wieder, es zu versauen. Christian [Eigner] und besonders
Andrew [Phillpott]", mit denen er an seinen Songs für das Album arbeitete, "sind
technisch viel versierter, und ich überlasse das auch gern jemandem, denn so bin
ich freier, wenn es darum geht, an einem Song oder einer Melodie zu arbeiten."[11]
Und was machte Fletch so? "Die Wahrheit ist, dass ich keine Songs schreibe.
Ich habe kein Interesse daran. Ich spiele ein bisschen Keyboard, aber hauptsächlich
beschäftige ich mich mit der geschäftlichen Seite der Band, mit dem Plattenlabel
und unseren täglichen Angelegenheiten. Martin und Dave sind der Rückhalt der Band,
und ich nehme an, ich bin derjenige, der sie zusammenbringt."[12]
(Playing the Angel - mit freundlicher Genehmigung von © Paolo Gobbo)
Am 03.10. erschien die Single Precious / Free. Es gibt viele
verschiedene Versionen von Precious, aber nur eine von Free. Die
B-Seite war in den USA nur über Import erhältlich, erschien dort nicht offiziell.
Precious war eine sehr erfolgreiche Single, war in vielen Ländern auf Platz 1,
erreichte Platz 4 in UK und Platz 71 in den Hot 100. Das Video wurde von Uwe Flade
gedreht. Eine unfertige Version des Videos gelangte ins Internet, sodass Fans den
Song schon zwei Monate vor der Veröffentlichung hören konnten.
Am 17.10. wurde das Album Playing the Angel veröffentlicht.
So richtig glaubte die Presse nicht an die neue Harmonie, weshalb der vorangegangene
"Zickenkrieg" nochmals aufgegriffen wurde (neben all den anderen üblichen Themen -
komische Kleidung in der Vergangenheit, schwul sein, Drogen, Alan ...).
Dave: "Ich finde künstlerischen Streit sehr gesund und förderlich - wenn es
um Ideen geht. Nicht aber, wenn es ums Ego geht. Das war in der Vergangenheit mein
Problem. Ich habe nie klar genug gesagt: 'Hier, ich habe einige Ideen, ich möchte,
dass du mir hilfst.' Ich habe es einfach nicht über die Lippen gebracht. Zu diesem
Album habe ich das nun zum ersten Mal formuliert - und wurde mit offenen Armen
empfangen."[13]
Doch noch immer gab es einige Spannungen. So etwa beim Video zu Precious.
Martin: "Der Regisseur ging das Konzept für das Video mit uns durch und sagte,
dass er uns in diesem futuristischen Ballsaal spielen lassen wollte. Und Dave
sagte: 'Wenn es in einem Ballsaal ist, Andy, dann denke ich, solltest du Klavier spielen.'
Und Andy sagte: 'Wenn es ein futuristischer Ballsaal ist, würde es vielleicht besser
aussehen, wenn ich einen alten Synthesizer spiele.' Plötzlich rief Dave: 'Ich will
doch nur das Beste für die Band!' Und rannte raus."[14]
Da wir gerade bei Anekdoten sind ... es gab in diesem Jahr ein paar Highlights.
Sehr amüsantes Interview mit Martin und Fletch, das kurz vor dem Auftritt bei
TOTP am 08.09. auf aol.de veröffentlicht wurde, sich aber leider
nicht mehr wiederfinden lässt. Der Journalist (dessen Namen sich daher nicht
rekonstruieren lässt) trifft die beiden auf ein Weizenbier ...
Martin: "Das war meine Bedingung für dieses Interview."
Fletch: "Er säuft jetzt schon seit 14 Stunden nonstop."
Martin: "Jede halbe Stunde kommt hier ein neuer Journalist rein, und jede
halbe Stunde bekomme ich ein neues Bier. Das ist der Deal. Morgen muss ich
allerdings fit sein, weil wir bei TOTP auftreten. Wir haben die Show für uns allein.
Wir sind sogar richtig sauer, dass wir Nena diesmal nicht über den Weg laufen."
Journalist: "Gefällt sie dir?"
Martin: "Vor 20 Jahren war sie ganz niedlich."
Fletch: "Sie hat vier Kinder, eins mehr als du, Martin. Und außerdem rasiert
sie sich jetzt die Achseln."
[...]
Martin: "Alle Journalisten, die hier rein kommen, sagen: 'Ich mag das Album.'
Früher gab es noch richtige Auseinandersetzungen mit den Rockjournalisten, hitzige
Diskussionen darüber, was die Songs taugen. Das hat echt mehr Spaß gemacht. Auch
mal das Band des Journalisten aus dem Rekorder nehmen und aus dem Fenster werfen.
In den 1980ern, als Rock sehr groß war und elektronische Musik nicht so richtig
ernst genommen wurde, da hätte es manchmal fast eine Prügelei bei Interviews gegeben.
Gute alte Zeit."
Fletch: "Heutzutage haben uns ja sogar die Rockjournalisten gern."
Martin: "In den 1980ern wurden wir wenigstens noch gehasst. Nun akzeptiert
jeder Elektromusik, und wir sind längst in den Popregalen gelandet. Wir sind
furchtbarer Mainstream. Wir würden jedoch keine Alben mehr machen, wenn wir nicht
sicher wären, sie sind wichtig und relevant, auch über ihren Zeitrahmen hinaus.
Es wäre wirklich traurig, so zu sein wie die Rolling Stones. Jeder will die sehen,
aber die Leute wollen ausschließlich Paint It Black oder Satisfaction hören."
Fletch: "Martin, zu uns kommen die Leute aber auch wegen Just Can't Get
Enough. Bei uns ist das gesamte Bild interessant."[15]
Während eines Interviews mit einem deutschen Radiosender wurden Martin und Dave
gefragt, ob sie Deutsch sprechen.
"Ich habe Deutsch in der Schule gelernt", antwortet Martin auf Deutsch.
"Und ich habe eine Weile in Berlin gewohnt. Damals hatte ich eine deutsche Freundin."
(lacht) "Ja, ich spreche nicht gut Deutsch, aber ich spreche okay Deutsch."
Dave: "I'll stick to [ich kann nicht mehr als] 'Spiegelei mit Bratkartoffeln
- ohne Toast.'" (lacht).[16]
In einem anderen Interview sollten die DM-Mitglieder getrennt voneinander sagen,
was ihnen an den jeweils anderen beiden gut gefällt.
Fletch: "Martin, den ich seit meinem 11. Lebensjahr kenne, ist einer der
nettesten Männer, die ich kenne. Dave erstaunt mich jede Nacht mit seiner
Performance."
Auch Martin meisterte die Aufgabe ohne Probleme. "Dave ist sehr diszipliniert.
Und Andy ist sehr organisiert."
Dave hingegen war offenbar mit einer falschen Vorstellung der Frage behaftet
oder wurde auf dem falschen Fuß erwischt. "Äh ... was Tolles sagen? Oh, das ist
schwerer, als ich dachte. Ich könnte dir nicht mal was Tolles über mich sagen.
Nun, Martin ... Weißt du was? Das ist wirklich eine schwere Frage. ... Nun, Fletch
ist, äh ... Ich weiß nicht. Kann ich hören, was sie gesagt haben?"[17]
Quellenangaben:
[1] Entnommen aus: In the Studio: Depeche Mode, Q, Juli 2005. Autor: unbekannt.
[2] Entnommen aus: Fighting Mode, Music Article, 14.10.2005. Autor: Chris Willman.
[3] Entnommen aus: Depeche Mode on synths, drugs and Basildon, The Times (UK), 21.03.2013. Autor: Ed Potton.
[4] Entnommen aus: Taken from: We're dysfunctional. Maybe that's what makes us tick, The Guardian (UK), 28.03.2013. Autor: Dorian Lynskey.
[5] Entnommen aus: The Dark Side of the Mode, Kulturnews, Oktober 2005. Autor: Stefan Woldach.
[6] Entnommen aus: Interview auf Eins Live, 17.06.2005. Interviewer: unbekannt.
[7] Entnommen aus: Mode Turn Angelic, Manchester Evening News, 24.03.2006. Autor: Kevin Bourke.
[8] Entnommen aus: Pop: It's good to talk, Sunday Times (US), 18.09.2005. Autor: Dan Cairns.
[9] Entnommen aus: The Long Ride Home, Remix Mag, 01.11.2005. Autor: Robert Hanson.
[10] Entnommen aus: A La Mode, Gaywired, 02.11.2005. Autor: Lawrence Ferber.
[11] Entnommen aus: The Long Ride Home, Remix Mag, 01.11.2005. Autor: Robert Hanson.
[12] Entnommen aus: Depeche Mode returns to basics with latest Album, Channel News (Asia), 14.10.2005. Autor: Zul Othman.
[13] Entnommen aus: The Dark Side of the Mode, Kulturnews, Oktober 2005. Autor: Stefan Woldach.
[14] Entnommen aus: Songs of Innocence and Experience, Mojo, November 2005. Autor: Danny Eccleston.
[15] Entnommen aus: Interview auf aol.de. Quelle ist nicht mehr auffindbar. Autor: unbekannt.
[16] Entnommen aus: Interview auf Eins Live, 17.06.2005. Interviewer: unbekannt.
[17] Entnommen aus: Showtime! Q, Februar 2006. Autor: Johny Davis.