1985
Anfang 1985 legten DM eine kleine Tourpause ein und nutzten diese wohl dazu,
um Shake the Disease und Flexible aufzunehmen, da die dazu gehörige
Single praktisch unmittelbar nach Ende des dritten Teils der Tournee erschien. Denn
vom 14.03. bis zum 12.04. spielten DM 19 Konzerte in den USA und Japan.
Am 29.04. erschien das Live-Video The World We Live In and Live In Hamburg.
Das Konzert war am 09.12.1984 in der Alsterdorfer Sporthalle in Hamburg
mitgeschnitten worden.
Ebenfalls am 29.04. wurde die Single Shake the Disease / Flexible
veröffentlicht. Es gab neben dem 7"-Mix drei verschiedene Versionen von
Shake the Disease - eine ausfadende Version, die Remixed Extended Version
(von Flood) und die Edit the Shake-Version. Flexible gab es ebenfalls
als Remixed Extended Version (von Flood) und als Pre-Deportation Mix
(von Bert Bevins). Einige Veröffentlichungen enthielten außerdem eine Live-Version
von Master and Servant (aufgenommen in Basel am 30.11 1984) und den
Metal Mix von Something to Do (von Gareth Jones).
Dave: "Shake the Disease ist ein guter Song, einer, der zuletzt in den
Charts gefehlt hat. Da gibt es so viel amerikanische Musik und nichts, was wirklich
Substanz hätte, nichts Neues. Die meisten Sachen, die zuletzt Erfolg hatten, sind
einfach nur Rhythmus-Tracks, so was wie das, was wir mit der B-Seite zum Spaß
gemacht haben."
Martin: "Flexible ist eine Art Witz. Denn ich denke, wenn meine Mutter
sich anschaut, was ich jetzt so mache, denkt sie: 'Was hat es aus dir gemacht?'[1]
Ich denke, dass es von Construction Time Again an viele Verbindungen zwischen
den Songs gibt. Ich mag es, solche Bezüge herzustellen. Manche sind recht offensichtlich.
In Shake the Disease gibt es zum Beispiel einen Bezug zu einem anderen Song.
Da heißt es: Now I've got things to do and I've said before I know you have too.
In einem anderen Song heißt es: Now I've got things to do and you have too."[2]
Für die, die nicht gleich drauf kommen: Dieser andere Song ist Stories of Old
(Some Great Reward). Ich wurde von einem Leser gefragt, ob es noch eine weitere,
bzw. eine thematische Verbindung zwischen diesen beiden Songs gibt.
Stories of Old handelt davon, dass er ein Mädchen liebt und sich großartig
fühlt, wenn er mit ihr zusammen ist, (I'm really in heaven whenever we kiss),
aber nicht bereit ist, alles der Liebe zu opfern. (I wouldn't sacrifice anything at all
to love.) Er mag es nicht, der Beziehung zuliebe ständig Kompromisse eingehen zu müssen,
mag es nicht, an jemanden gefesselt zu sein. Beide sollten in der Lage sein, neben
der Beziehung auch noch ein eigenes Leben führen können, unabhängig voneinander.
(Now I've got things to do and you have too.)
Das gleiche Thema taucht auch in Shake the Disease auf, wenn er sagt, dass
einige Leute (Paare) ständig zusammen "rumhingen". (Some people have
to be permanently together.) Auch hier fragt er nach Unabhängigkeit, aber
während er in Stories of Old noch sehr selbstbewusst klingt, dass die Frau
es nicht schaffen würde, ihn zu ändern, (You won't change me!), fällt es ihm
bei Shake the Disease weitaus schwerer, zu erklären, warum ihm diese
Unabhängigkeit so wichtig ist. Dies ist vor allem deshalb so schwierig, weil er es
nicht schafft "diese Krankheit abzuschütteln, die in Situationen wie diesen" seine
Zunge lähmt, womit er auf seine Schüchternheit und Kommunikationsunfähigkeit
anspielt, die ihm durchaus bewusst ist.
Man könnte Shake the Disease als eine Art Fortsetzung von Stories of Old
verstehen, allerdings hat sich die beschriebene Beziehung mittlerweile verändert.
Es scheint, als ob das Mädchen seine Unabhängigkeit nicht mehr länger so ohne
Weiteres akzeptiert, sondern stattdessen versucht, die "Zügel anzuziehen", weshalb er
sie anfleht, ihn doch bitte zu verstehen. (Understand me.)
Alan: "Shake the Disease ist noch immer einer meiner Lieblingssongs
von Martin, aber ich denke nicht, dass wir das Beste daraus gemacht haben. Alle
versuchten, es besonders klingen zu lassen, ganz besonders Daniel, der tagelang alle
möglichen Sounds von seinem Synklavier auf 24 verschiedene Tracks aufnahm, um sie
dann auf zwei zu reduzieren. Und das Ergebnis? Etwas, das wie eine abgeschnittene
Sinuskurve klang."
Das Video zu Shake the Disease wurde von Peter Care gefilmt, der eine
sogenannte "auf den Kopf gestellte"-Maschine benutzte.
Alan: "Das Video beinhaltet Sequenzen mit 'freiem Fall', die auf einer simplen
optischen Täuschung basieren. Man wird mittels einer Stange, die hinten durch die Jacke
gesteckt wird, mit einem Motor verbunden. Wenn einen die Rotation der Stange mit sich
zieht, folgt die Kamera, sodass der Eindruck vermittelt wird, als befände man sich
noch am gleichen Ort, während sich der Hintergrund bewegt. Peter verwendete auch
einen ähnlichen Trick, bei dem die Kamera an einem befestigt wird, an einer Art
Harnisch. Wenn man sich dann mit der Kamera bewegt, erscheint es, als bewege man
sich selbst überhaupt nicht, der Hintergrund jedoch schon."[3]
Die Band gönnte sich zwei Monate Pause, ehe sie vom 06.07. bis zum 30.07. mit acht
Konzerten den vierten Teil der Some Great Reward-Tour spielte und dabei hauptsächlich
auf Festivals auftrat.
(mit freundlicher Genehmigung von Mute/EMI)
Da es in diesem Jahr nur wenige musikalische Aktivitäten gab, zu denen man die Band
hätte befragen können, neigten einige Journalisten dazu, "Rückschau zu halten", und
dazu, mehr über die Persönlichkeiten der Bandmitglieder in Erfahrung zu bringen.
Da Martin sein Outfit und seinen Lebensstil drastisch verändert hatte, stach er
ein wenig aus der Gruppe hervor. Einige Journalisten versuchten nun, ihn - frei
nach Shake the Disease - "zu verstehen" und besser kennenzulernen. Aber das
war nicht so einfach. Manchmal scheiterte es daran, dass Martin keine Lust hatte,
etwas über sich preiszugeben, manchmal war er zu schlau und manchmal kapierten
sie seinen Humor einfach nicht.
Wie auch immer, eines der beiden Hauptthemen in diesem Jahr war also Martin -
wegen seines Kleidungsstils, seiner Stripeinlagen und seinen "Theorien". Ein paar
dieser "Theorien":
"Ich habe die Theorie, dass man länger im Geschäft ist, wenn man sich nicht allzu
offenherzig gibt. Als wir anfingen, wurden wir sehr oft kritisiert, weil wir ein
so schreckliches Image hatten. Sogar ich dachte, wir wären Weicheier. Jetzt haben
wir das geändert. Es ist eine Herausforderung."
"Nach ein paar netten kleinen Popsingles muss ein bisschen Perversion erlaubt sein.
Der Arbeitstitel von Some Great Reward war Perversion, aber wir dachten,
dass Mütter das nicht für ihre Töchter kaufen würden."
"Ich bin ein Pessimist und glücklich, einer zu sein. Manchmal male ich alles zu
schwarz, und selbst, wenn es uns gut geht, neige ich dazu, die schlechten Dinge
wahrzunehmen."
"Konventioneller Humor langweilt mich. Ich wünschte, ein paar Leute könnten den
Humor in unseren Songs sehen."[4]
"Ich bin eine pessimistische Person, und ich sehe das Leben als sehr langweilig an.
So sehe ich das, was wir tun als ... Liebe und Sex und Trinken gegen die Langeweile
des Lebens an. Wenn ich Liebeslieder schreibe, finden die Leute sie weinerlich,
aber ich sehe Liebe als ... ein Trost für die Langeweile des Lebens. Und trinken
und Sex ... Ich persönlich denke, wir sind ziemlich dekadent. Wenn wir auf Tournee
sind, was sehr langweilig ist, neigen wir, oder ein paar von uns, dazu, jede Nacht
auszugehen und zu trinken und Spaß zu haben. Trost, verstehst du? Ich weiß, dass
das von Bands erwartet wird, aber ausgehen macht Spaß, Trinken macht Spaß und
Kollabieren macht Spaß."
Martin kippt einen weiteren Whiskey hinunter, woraufhin der Reporter die Frage zu
stellen wagt, ob er denn nie etwas wirklich Wildes machen wolle.
"Ich möchte die Langeweile des Lebens repräsentieren ..."
Entschuldige, dass ich gefragt habe ...
Martin: "... und wenn man die Dinge zu absurden Extremen werden lässt,
reflektiert man das Leben nicht. Echtes Leben ist nicht extrem, also sind wir es auch
nicht, und auch nicht unsere Musik. Aber wenn ich langweilige Platten mache, und
die Leute sich damit identifizieren können, dann habe ich mein Ziel erreicht."[5]
Nun, vielleicht nicht gerade "langweilige Platten", aber in jedem Fall Musik, mit
der sich sehr viele Menschen - mit ganz unterschiedlichen musikalischen Hintergründen
und aus völlig unterschiedlichen Kulturkreisen stammend - auf eine sehr persönliche
Weise identifizieren können. Zumindest scheint dies die Quintessenz dessen zu sein,
was die Fans sagen, wenn man sie fragt, warum sie denn nun eigentlich Fans sind.
"Wie kann Mart wissen, was in meinem Kopf vorgeht?", ist vermutlich der Satz, der
es auf den Punkt bringt. Insofern identifizieren sich die Leute also nicht mit der
"langweiligen Platte", sondern mit ihrer eigenen Persönlichkeit, die sie "durch
die Musik finden." Die Musik von DM ist somit zugleich "irgendwie anders und
individuell" und trotzdem "vollkommen normal", weil sich jeder "in so einer Situation
exakt genauso gefühlt hat" und in der Lage wäre, "zu jedem Song, jedem Album eine
Geschichte zu erzählen", die mit seinem eigenen Leben verknüpft ist.
Martin hat vollkommen recht damit, dass das reale Leben in der Regel nicht extrem
ist. Somit reflektieren seine Songs das Leben, das die meisten Menschen kennen.
Alan: "Martin ist definitiv ein unterbewerteter Songschreiber. Seine Songs sind
in der Lage, Menschen zu berühren. Dies schaffen nur sehr wenige Songschreiber.
Und die Qualität des Songwritings ist definitiv einer der Hauptgründe für die lange
Lebensdauer von Depeche Mode."[6]
Und es gab eben jede Menge Artikel über die Klamotten ...
Martin: "Ich brauche kaum Klamotten zu kaufen. Seitdem die Fans realisiert
haben, welchen Style ich pflege, schmeißen sie Sachen auf die Bühne. Ich habe Tonnen
von Halsbändern. Meine Mutter akzeptiert es jetzt auch, ich bin wirklich überrascht.
Als ich dieses Mal nach Hause kam, trug ich Seidenstrümpfe und so. Ich ging zu meiner
Mutter und fragte: 'Was machst du mit Seidenstrümpfen, Mum, tust du sie in die
Waschmaschine?' Und sie sagte: 'Tu sie zu der Schwarzwäsche, Liebes.'"
Dass die gesamte Band zu dieser Zeit eine Vorliebe für schwarzes Leder hatte, rief
weitere Spekulationen hervor.
Alan: "Wir beziehen dafür in England mehr Prügel als anderswo. Ein paar
amerikanische Geschäftsmänner beschimpfen uns als 'Schwule', aber nur sehr wenige
im Vergleich zu hier."[7]
1989 sagt Martin: "Wenn ich zurückschaue, dann bin ich nicht so glücklich
über ein paar Klamotten, die ich getragen habe. In jedem Interview wurde der Rock
erwähnt. Ich denke, es war ganz lustig, aber ich bereue, dass so viel Aufmerksamkeit
darauf gelegt wurde, und dass es immer noch Leute gibt, die denken, ich laufe wie eine
Transe rum."[8]
Und Dave im Jahr 1990: "Wenn es T.Rex oder Gary Glitter in den 1970ern
gewesen wären, man hätte das für normal gehalten. Es war cool, so zu sein. Sie sind
alle damit durchgekommen. Als Martin damit Mitte der 1980er ankam und es sehr direkt
tat, bezog er Prügel. Es war Martins Problem. Er dachte, es wäre lustig. Abseits
der Kameras hat er sich köstlich darüber amüsiert. Wir alle haben uns köstlich
darüber amüsiert. Dann realisierten wir, dass es für keinen von uns gut war.
Also sagten wir ständig: 'Du kannst nicht so rumlaufen.' Wir machten das wirklich.
Martin hat natürlich weitergemacht. Diese absurden Klamotten! Jetzt schaut er zurück
und fragt: 'Was zur Hölle hab ich gemacht?' Das Lustige ist, dass wir damit durchgekommen
sind. Schau, Popmusik ist nichts, was man zu ernst nehmen sollte. Wir waren sehr
ernst, was unsere Musik anbelangt. Zur gleichen Zeit mussten wir einfach über uns
selbst lachen und über das ganze Musikgeschäft. Es ist so ekelerregend, wenn man sieht,
was diese Bands so machen und wer den Rekord der Nächstenliebe hält. Das sind alles
große Sachen, sicher, aber wir haben so was immer vermieden. Wenn wir was Wohltätiges
tun wollen, dann machen wir das im Privaten und so leise wie möglich. Wir wollten
nie, dass Wohltätigkeit zu etwas wird, was unserer Karriere hilft. Was auch immer
die Intentionen dieser Bands sind, so kommt es für mich rüber. Es ist sehr trendy
geworden. Wir haben das immer vermieden, so wie Sch***-Plaque oder so. Man muss
die ernste und die lustige Seite in Waage halten. Ich denke, der Grund, weshalb
Martin Kleider getragen hat, war nur Spaß. Nichts Tieferes dahinter. Die Leute
lesen da mehr rein als da ist, so was wie, dass er ein Transvestit war oder so.[9]
Martin sagte mal zu mir: 'Ich mag es, in den Spiegel zu schauen, bevor ich rausgehe,
zu lachen und zu denken: Mal sehen, womit ich heute durchkomme.' Er trug Lederhosen
und darüber einen Rock. Und dann trug er nur einen Rock. Wir saßen backstage und
sagten: 'Martin, du kannst den Sch*** nicht tragen, Mann! Du musst das ausziehen!'"
Martin: "Ich fand es ganz lustig. Ich dachte nicht, dass ein solches
Theater darum gemacht werden würde."[10]
Alan: "Ich fühlte mich nicht wohl damit, dass Martin Mädchenkleidung anzog ,
und der Rest der Gruppe kommentierte das auch oft und versuchte, ihn davon abzubringen.
Aber je mehr wir das taten, umso sturer reagierte er darauf.[11] Ironischerweise reagiert
Martin heute irritiert, wenn Leute ihn auf die Kleid-Phase ansprechen - was hat er
erwartet? Unglücklicherweise bilden sich die Leute ihre Meinung über jemanden danach,
wie er aussieht, und vieles an dem Style der frühen 1980er Jahre war ziemlich weiblich.
Dass Martin einen Rock trug, half nicht gerade. Aber man muss auch sagen, dass die
Band von den frühen Tagen an eine große schwule Fangemeinde anzog - lange bevor
Martin überhaupt nur in Erwägung zog, ein Kleid anzuziehen - die sehr treu und
unterstützend war. Der interessanteste Punkt daran ist, dass Martin nicht schwul ist,
und es ihn ärgert, wenn die Leute wegen der Kleid-Phase denken, er sei es. Er scheint
den Fakt zu übersehen, dass manche Leute Transvestismus immer noch mit Homosexualität
gleichsetzen."[12]
Alan irrt hier. Ich habe kein einziges Interview gefunden, in dem Martin sich darüber
verärgert gezeigt hätte, als jemand annahm, er sei schwul. Er reagierte höchstens
genervt, wenn die Frage allzu oft gestellt wurde. Sollte er sich also tatsächlich mal
über die Annahme, er sei schwul, geärgert haben, dann geschah das intern.
1985 waren ihnen die Konsequenzen der "Klamotten-Sache" noch ziemlich egal.
Martin: "Ich kaufte meine erste Lederjacke, als ich 18 war. Ich habe eine
Vorliebe für schwarzes Leder entwickelt, was paradox ist, weil ich, wie Alan,
Vegetarier bin - aus moralischen und gesundheitlichen Gründen." (Ich weiß nicht, ob
Martin heute noch vegetarisch lebt, Alan war nur eine Weile Vegetarier, offenbar
beeinflusst durch seine damalige Freundin bzw. erste Frau Jeri.) "Schwarzes Leder
ist beeindruckend und einfach ... Die Leute denken, ich hätte verrückte Angewohnheiten,
aber meine schlimmste Untugend sind Videospiele. Nun, ich habe noch ein paar andere,
aber ihr wärt daran zu sehr interessiert ... Ein Durchschnittstag von mir sieht so
aus: Ich stehe mittags auf und komponiere auf meiner Gitarre, sample Töne bis acht
Uhr abends. Ich bin kein großer Musiker. Keiner von uns ist das, außer Alan. Mein
Interesse gilt Melodien und Texten ... Geschlechterbarrieren sind dumm. Meine
Freundin und ich teilen Kleider, Make-up, alles. Na und? Es ist ein Schock, in
einem Magazin wie der Bravo zu lesen, dass ich mich wie eine Frau anziehe.[13]
Ich mag es nicht, wenn das so hochgespielt wird, weil ich nichts Besonderes darin sehe.
Es ist nur etwas, was mir Spaß macht. Ich denke, ich mag es, weil es anders ist, und
weil ich männliche Kleidung sehr langweilig finde. Männer sind sehr begrenzt darin,
was sie anziehen können, was akzeptabel ist. Ich würde wohl nicht in einem Kleid
einkaufen gehen, aber wenn ich in einen Club gehe, ziehe ich eins an. Eine Sache,
die mir aufgefallen ist, ist, dass jeder glaubt, man sei schwul, wenn man sich
feminin anzieht, aber was die Leute dabei übersehen, ist, dass sich die meisten
Mädchen, zumindest die meisten Mädchen, die ich kenne, heutzutage so anziehen wie
Jungs. Manchmal, wenn ich etwas Neues kaufe und zum ersten Mal präsentiere, lachen
die anderen mich aus. Sie sagen so was wie: 'Das kannst du nicht anziehen' und so."[14]
Es war aber letztlich nichts Außergewöhnliches, dass er sich so kleidete. Es war
die generelle Sichtweise unter - speziell - britischen Künstlern zu dieser Zeit.
Wenn man sich die Popkultur in Großbritannien Mitte der 1980er ansieht, findet man
eine ganze Reihe von männlichen Künstlern, die sich feminin anzogen, und eine Reihe
von weiblichen Künstlern, die sich maskulin kleideten - als prominentes Beispiel
wäre Annie Lennox (Eurythmics) zu nennen.
Dave: "Mart hat sich total verändert. Aber er geht den Weg, den er gehen will.
Er hat seine Teenagerzeit ausgelassen, ausgehen, jede Nacht ein anderes Mädchen,
sich betrinken, sich keine Sorgen machen. Er lebt das jetzt. Es ist nicht schlecht.
Jeder sollte so eine Phase durchleben. Ich persönlich denke, er macht jetzt all die
Sachen, die ich gemacht habe, als ich 16 war. Die ganze Sache mit der Langweile ist
genau das, was ich auch erlebt habe. Ich ging in Clubs mit Leuten, die viel älter
waren als ich. Ich trug Tonnen von Make-up und auch Kleider. Wenn ich jetzt in einen
Club gehe, will ich nur eine gute Zeit haben, nicht schockieren."[15]
1990 erklärt er: "Du wirst mich nicht in einem Sch***-Kleid erwischen! Keine
Chance! Ich bin der Typ von nebenan. Ich hab in meinem ganzen Leben kein Kleid
getragen. Werd ich auch nie!"[16]
Allerdings gibt es ein Bild aus dem Dezember 1980, auf dem er eindeutig ein
Kleid trägt:
(Copyrightinhaber unbekannt - kann auf Wunsch sofort entfernt werden)
Und es ging tatsächlich noch weiter mit den Klamotten.
Alan: "Es gefällt Martin, wenn wir durch den Zoll gehen, und er gefragt wird,
ob er in die Männer- oder die Frauenkabine will, um durchsucht zu werden."
Dave: "Ich sehe mir die Dinge an, die Martin jetzt macht, und ich lache
einfach ..."[17]
Alan: "Viele Typen im Publikum denken sicher nicht darüber nach, warum Martin
einen Rock trägt. In einer anderen Situation würden sie ihn verprügeln, aber wenn
es auf der Bühne ist, lieben sie es."[18]
Aussagen wie diese führten dazu, dass man sie für reichlich dekadent hielt.
Martin: "Nun, mir geht es nicht um ... Schmerz oder so was. Dekadenz
deckt viele Bereiche ab! Einige von uns gehen was trinken, wenn wir
auf Tournee sind, und ich weiß, dass man so was von uns erwartet,
weil wir eine Band sind, aber es ist nur eine Art, sich zu amüsieren ..."
Dave: "Du magst Dekadenz aber schon, oder?"
Martin: "Mmmmmm ... nun, ja, schon ... Manchmal ... wenn man etwas
macht, so was, wie die Straße mit deiner Freundin runterlaufen,
dann bekommt man das Gefühl, zu normal zu sein. Es ist kein gutes
Gefühl ..."
Dave: "Ich kann dir versichern, du bist nicht normal, Martin!"[19]
In diesem Jahr nennenswerte Themen zu finden, war wirklich schwierig. Es gab nur
Kleinigkeiten am Rande zu vermelden.
Dave: "Am Ende dieser Tour werde ich etliche Kilo verloren haben. Es ist
sehr ungesund, so zu leben. Ich werde dauernd krank, also reise ich mit einem Koffer
voller Medikamente - Antibiotika, Glycerine, Vitamine ... Die Sache ist, die Konzerte
sind großartig, aber der Rest ist reine Zeitverschwendung. Man macht nichts, und man
isst nicht vernünftig. Nach der Show ist man so aufgedreht, dass man stundenlang
wach ist. Wenn es vorbei ist, und ich nach Hause fahre, bin ich total desorientiert.
Ich renne wie aufgedreht im Haus herum. Es braucht Wochen, um zu einer Routine zu
finden, wie Wäsche waschen, Rechnungen bezahlen, etwas für die Wohnung kaufen. Als ich
innerhalb von Basildon umgezogen bin, habe ich etwas an Gewicht zugelegt. Es hat nicht
lange vorgehalten."
Und über die Konzerte: "Es ist ein sexuelles Gefühl, ein Gefühl von immenser Macht.
Je größer die Menge ist, umso besser. Unsere Live-Shows sind anders als die Alben,
viel aggressiver, und ich trage die Verantwortung dafür. 9.000 Leuten zu sagen, was
sie machen sollen, ist wie auf einem anderen Planeten zu sein."[20]
Das große Live Aid-Festival, das in diesem Jahr stattfand und in die Geschichte einging,
war für DM ebenso wenig Thema wie typische Medienarbeit generell.
Alan: "Es ist eine konträre Sache. Wir sitzen da und denken: 'Oh nein, wir
haben mit Shake the Disease bloß Platz 18 erreicht', und zur gleichen Zeit
wissen wir, wir würden eine höhere Position erreichen, wenn wir mehr solche Dinge
tun würden, die wir nicht tun wollen, dieses ganze Medienzeug. Wir wissen also, woran
es liegt. Das Problem ist, wenn man sehr ehrlich ist, wenn man immer die Wahrheit sagt,
kommt man ein bisschen rückgratlos daher, ein bisschen langweilig."[21]
Fletch: "Da wir bei einer unabhängigen Firma sind, haben wir solche Kontakte
nicht, also wurden wir nicht gefragt, ob wir bei Live Aid auftreten würden. Ich
denke nicht, dass Geldof klar war, wie viele Platten wir international verkaufen.
Zu der Zeit waren wir enttäuscht, aber die ganze Sache wurde dann ziemlich schäbig -
all diese alternden Rockbands, die offenbar nur auftraten, um ihre eigene Karriere
zu pushen - jetzt sind wir froh, nicht beteiligt gewesen zu sein. Das Geld, was
dabei eingenommen wurde, kann nicht kritisiert werden ... aber es wäre sehr viel
mehr gewesen, wenn sie das dazugerechnet hätten, das für ihre Kokainrechnung
draufgegangen ist ..."[22]
Alan: "Ich bezweifle, dass wir die Einladung wirklich angenommen hätten,
wären wir gefragt worden. Meine persönliche Meinung ist, dass Wohltätigkeit eine absolut
private Sache sein sollte, aus der keinerlei persönlicher Vorteil gezogen werden
sollte. Die Künstler, die an Live Aid beteiligt waren, hatten danach aber fast
alle eine Steigerung ihrer Plattenverkäufe zu verzeichnen, und der Zyniker in mir
fragt sich, wie viel von den Einnahmen dann tatsächlich in Äthiopien angekommen ist."[23]
Ich hingegen bezweifle, dass sie wirklich "nein" gesagt hätten, wenn sie denn
gefragt worden wären. Der Satz: "Ich denke nicht, dass Geldof klar war, wie viele
Platten wir international verkaufen", sagt an sich alles, was man wissen muss.
Zwar waren sie auf der einen Seite stolz auf ihre Unabhängigkeit und glücklich darüber,
dass sie nichts mit dem generellen Musikbusiness zu tun hatten, auf der anderen Seite
waren sie aber durchaus auf Erfolg aus. Vielleicht kamen sie einfach zu dem Schluss,
dass es besser war, den Erfolg auf andere Weise zu erreichen.
Am 04.08. heirateten Dave und Joanne und zogen in ein gemeinsames Haus
in Essex. Dies war das zweite "große" Thema in diesem Jahr.
"Ich habe viele Mädchen getroffen, und ich hatte viele Mädchen, und sicher, ich war
davor auch schon mal verliebt, aber Jo ist das einzige Mädchen, das ich je getroffen
habe, mit dem ich leben kann. Wir kommen gut miteinander aus. Da ist etwas Besonderes.
Wir gehen jetzt seit sechs Jahren miteinander, und ich stand einfach eines Morgens auf
und fragte sie, und sie sagte nur: 'Ja, okay.' Es war ganz zwanglos."[24]
1986 ergänzt er: "Wir hätten das hochspielen können. Es stört mich nicht,
es zu erzählen, aber was soll's? Wen interessiert das? Tausende von Leuten heiraten
jeden Tag. Es ist vielleicht klischeehaft, zu sagen, man fühle sich nicht anders,
aber ich tue es wirklich nicht. Wir kommen einfach gut miteinander klar. Jo macht
so viel für mich, und sie ist immer da, wenn ich sie brauche. Ich vermisse sie
mehr und mehr."
Dennoch kam sie schon seit einiger Zeit nicht mehr mit auf Tournee.
"Sie kann kommen, aber es funktioniert nicht. Es ist sehr schwierig. Auf Tournee
bin ich ein ganz anderer Mensch. Ich kann schrecklich sein, weil ich so fixiert
bin auf das, was ich tue. Wenn Jo dabei ist, mag ich es, aber wenn sie jeden Tag
da ist und ich schlechte Laune habe, lasse ich sie darunter leiden. Wir hatten viele
wüste Streitereien ..."
Klingt nicht gerade nach der großen Liebe. Auf Nachbohren eines Journalisten gibt
er zu, dass der Hauptgrund für die Ehe Kinder gewesen seien: "Ich denke, das würde
meinem Leben eine ganz neue Perspektive geben. Ein Kind aufzuziehen, stellt alles
andere in den Schatten. Alles andere, auch die Band, würde zweitrangig werden."[25]
Während Dave heiratete, zog Fletch nach London - in "einen Schuhkarton mit
vielen Pflanzen" - etwas, was die Band amüsierte.
"Er hat seine Wurzeln verloren." Alan war hier ziemlich gemein, aber Fletch
hatte in vielen vorherigen Interviews eben immer wieder gesagt, er würde nie, nie
aus Basildon wegziehen. "Er investiert in Dinge wie Weinregale. Er hat sogar eine
Reihe von Büchern über Pflanzenpflege."[26]
Oder eine andere Geschichte ...
In einer Hotellobby sitzt ein Reporter zwischen den Depeche-Jungs. Er wendet sich
an den gelangweilt drein schauenden Alan: "Wir fangen mit dir an, Vince Clarke ..."[27]
Leider wurde es versäumt, zu erzählen, was Alan darauf erwiderte.
Wie ist denn eigentlich so das Leben als Popstar?
Dave: "Es ist: Ich bin glücklich - ich bin depressiv. Da gibt es nichts
dazwischen. Man fühlt sich nie einfach okay, man ist entweder extrem glücklich oder
extrem depressiv. Ich glaube, niemand kann das verstehen, bevor er nicht in einer
erfolgreichen Band ist."[28]
Klingt fast so, als würde man automatisch manisch-depressiv, wenn man Popstar ist.
Vielleicht ist dies einer der Gründe, warum so viele von ihnen zu Alkohol und Drogen
greifen.
Und was kann man so in Berlin machen?
Alan: "Man kann viel machen in Berlin. Wenn man um 4 Uhr morgens mit der
Arbeit aufhört, kann man nicht schlafen, sondern endet in einer Bar oder einem Club.
DNC ist beliebt, dann gibt es ein paar gute Schwulenclubs, Corelles ist gut,
The Jungle ..."[29]
Die Spekulationen dazu kann man sich in etwa vorstellen. Erst sehr viel später fügte
er hinzu: "Ich bin nicht schwul, aber ich habe kein Problem damit, in eine Schwulenbar
zu gehen. Wir gingen dorthin, weil sie die beste Stimmung und Musik hatten."[30]
Aus heutiger Sicht ist es schwierig, zu verstehen, warum die Spekulationen,
die Band (oder eines der Bandmitglieder) könnte homosexuell sein, so ein Problem
darstellten. Ich bin zwar selbst in den 1980ern aufgewachsen, aber ich vergesse oft,
welch langen Weg die schwul-lesbische Community seither zurückgelegt hat. Es gibt
immer noch viele Länder, in denen Homosexuelle nicht gern gesehen sind oder sogar
verfolgt werden, aber inzwischen auch einige, in denen man sich um Toleranz bemüht.
In den 1980ern war dies anders. Als ich alte Musikmagazine durcharbeitete, fiel mir
auf, wie unterschwellig intolerant sie waren - gegen Frauen, Homosexuelle und alle,
die irgendwie aus dem Rahmen fielen. Musiker hatten ein bestimmtes Image zu erfüllen.
Heute wird oft so getan, als hätten sich Künstler mehr herausnehmen können, aber
das stimmt nicht so ganz. Besonders von Rockmusikern erwartete man mehr oder
weniger, dass sie männlich, hetero und "ganze Kerle" waren. Jemand mit Martins Vorliebe
für's Cross-Dressing (denn um etwas anderes ging es bei ihm ja gar nicht) passte
einfach nicht in das allgemeine Weltbild dieser Zeit.
Kurz nach Daves Hochzeit begannen die Aufnahmen zu It's Called a Heart
in den Genetic Studios. Die Single erschien am 16.09. Neben der 7"-Single-Version
von It's Called a Heart gab es noch eine Extended-Version und den Slow Mix
(von Gareth Jones). Die US-Ausgabe beinhaltete außerdem noch den Emotion Remix
und den Emotion Dub, die beide von Joseph Watt geremixt wurden.
Fly on the Windscreen, das als B-Seite eingesetzt wurde, wurde als 7"-Mix,
Extended Version und als Death Mix (von Gareth Jones) veröffentlicht.
Während sich die Bandmitglieder über Shake the Disease einig gewesen waren,
verursachte It's Called a Heart einigen Stress.
Alan: "It's Called a Heart ist meine am meisten gehasste DM-Single, und
ich war sogar dagegen, sie überhaupt aufzunehmen, geschweige denn, sie zu
veröffentlichen. Ich kämpfte verbissen für die B-Seite, Fly on the Windscreen,
die viel besser war. Für mich war die ganze Sache ein extremer Rückschritt. Wir hatten
darum gekämpft, uns weiterzuentwickeln und als eine Band mit einem härteren Sound,
mehr Tiefgang und Reife wahrgenommen zu werden, und dann kam diese extrem poppige
Nummer, die für unsere Reputation nicht gut war. Leider wurde ich von den anderen
überstimmt, obwohl sie auch fanden, dass Fly on the Windscreen als B-Seite
verschwendet war und zustimmten, es solle auf dem nächsten Album, Black Celebration,
erscheinen."
Bleibt zu hoffen, dass er dabei in der Lage war, dem Bild zu entsprechen, das er
von sich selbst hat: "Ich habe natürlich ausgesprochen, was ich über das Potenzial
der einzelnen Songs dachte, aber ich habe dabei versucht, immer diplomatisch zu
sein und keine unsensiblen Kommentare abzugeben."
Auch das Video zu It's Called a Heart hasste er, beantwortete die Frage,
ob er etwas in seinem Leben ändern würde, wenn er die Zeit zurückdrehen und alles
noch mal machen könnte, mit: "Ich denke nicht, dass ich viel anders machen würde,
abgesehen von ein paar Haarstyles und den bescheuerten Stiefeln, die ich in 101
getragen habe. Oh, und ich würde dafür sorgen, dass ich an dem Tag, an dem wir das
Video zu It's Called a Heart gedreht haben, meinen Wecker überhört hätte."
Nach der Intention des Videos gefragt, sagt er: "Das musst du Peter Care fragen
(den Regisseur) - er kam mit diesem 'Konzept' an. Etwa wie er 'so etwas wie ein Herz'
mit wirbelnden Kameras, die an einem Seil befestigt waren, am Ende eines Kornfelds
in Reading gleichsetzte - ich werde nie in der Lage sein, es zu erklären."[31]
Er hasste den Song sogar so sehr, dass er die Frage: "Was ist deiner Meinung nach
ein wahrer DM-Fan?", mit: "Jeder, der uns nach It's Called a Heart noch Zeit
gewidmet hat",[32] beantwortete.
Ein bisschen seltsam ist es, dass es kaum Aussagen der anderen Bandmitglieder zu
It's Called a Heart gibt. Zumindest nicht 1985. Dave sagt einfach:
"Ich finde es schwierig, Singles zu beurteilen, wenn sie gerade erst erschienen
sind",[33] und Martin erklärt: "Der Song handelt von der Wichtigkeit des Herzens
in einem mythischen Sinne, als der Teil des Körpers, in dem Gut und Böse beginnen.
Ich bin nicht sicher, ob ich daran glaube, aber es ist eine hübsche Idee."[34]
Jahre später würde Fletch auf die Frage nach ihrem schlechtesten Song It's Called
a Heart[35] nennen, und Martin sagt 1998: "It's Called a Heart
war eines der schlimmsten Dinge, die wir je herausgebracht haben."[36]
Trotzdem MUSS es jemanden gegeben haben, der ihn 1985 mochte, denn sonst
wäre es kaum zu diesen Problemen innerhalb der Band gekommen.
(mit freundlicher Genehmigung von © Bart Ceuppens)
Am 15.10. wurde die Compilation The Singles 1981-1985 veröffentlicht, welche hauptsächlich auf den US-Markt zugeschnitten war, denn dort begannen DM mehr und mehr Fuß zu fassen. Die US-Version trug allerdings den Titel Catching Up With Depeche Mode, hat aber die gleiche Trackliste.
Unterbrochen von einem Auftritt bei Peter's Popshow am 09.11. in der Dortmunder
Westfalenhalle, begann die Band Ende 1985 in den Westside Studios in London
und später in den Hansa Studios in Berlin mit den Aufnahmen zu Black Celebration.
Die Idee einer monatelangen Dauersession, um ein "klaustrophobisches Gefühl" zu
erzeugen, erwies sich sehr bald als allzu wahr.
Tatsächlich wurde die Studioatmosphäre während der Aufnahmen zu Black Celebration
immer schlechter. Während Martin es nun eher zuließ, seine Demos jenen zu überlassen,
die sich mehr auf die musikalische Umsetzung konzentrierten, wurde, so heißt es
in verschiedenen Quellen, die Produktionsbeziehung zwischen Daniel Miller, Gareth
Jones und Alan schlechter. Dies führte schließlich zum Entschluss Millers, der
Produktion in Zukunft fern zu bleiben.
Alan: "Dan und ich waren als Freunde und musikalische Kollegen zusammengewachsen
und hatten ein gegenseitiges Verständnis darüber entwickelt, welche Gebiete Depeche Mode
erkunden sollte. Diese Freundschaft war durch das Verbringen langer Stunden während
der Fertigstellung von Some Great Reward verbessert worden, als alle
anderen schon in den Ferien waren. Mit Black Celebration überschritten wir
den Zeitplan ebenfalls, aber diesmal kam es zu Problemen, vielleicht, weil zu viele
zusätzliche Stimmen in die Gleichung gebracht wurden."[37]
Martin: "Es wurde unglaublich viel gestritten damals. Wir hatten die
Arbeitsbeziehung mit Daniel und Gareth Jones überstrapaziert. Das war das dritte Album,
das wir zusammen machten, und ich denke, jeder war sehr faul geworden, hielt sich
an Formeln fest."[38]
Als ich die Gelegenheit hatte, mit Gareth Jones zu sprechen, fragte ich ihn auch nach dem Hauptgrund für die Spannungen während der Aufnahmen von Black Celebration. "Es war die dritte Platte, die wir zusammen machten. Sie stellte eine Herausforderung dar, weil wir etwas ganz Besonderes machen wollten. Daniel Miller hatte die Idee, Werner Herzog nachzufolgen und das Album zu leben." [Werner Herzog ist ein bedeutender Vertreter des "Neuen deutschen Films" und ist dafür bekannt, den Stoff, den er verfilmt, exzessiv zu durchleben, um dadurch ein besonders authentisches Ergebnis zu erzielen.] "Was wir machten, war, dass wir ohne Unterbrechung arbeiteten. Zu der Zeit waren wir alle wesentlich jünger und arbeiteten jeden Tag viele Stunden. Von dem Zeitpunkt an, an dem wir mit den Aufnahmen begannen, bis zu dem Tag, an dem wir das Album fertig abgemischt hatten, gingen wir jeden Tag zur Arbeit. Das bedeutete, dass ein spezieller Druck auf dem gesamten Prozess lastete. Aber wir hatten ihn selbst aufgebaut, waren bereit, dies zu leisten. Wir alle dachten, es sei eine gute Idee, wäre eine gute Sache, um diese Platte aufzunehmen. Es war nichts, wozu wir gezwungen worden wären. Wir hatten es diskutiert und gesagt: 'Das ist eine großartige Idee, lasst uns das so machen! Lasst uns ins Studio gehen und nicht aufhören, zu arbeiten, ohne einen Tag Pause, bis das Album fertig ist.' Das bedeutete, dass wir eine Art Klaustrophobie entwickelten, eine klaustrophobische Attitüde mit in die Produktion brachten, was aber zu den Songs und zu dem Album, das wir zu kreieren versuchten, zu passen schien. Ja, es herrschte manchmal eine große Anspannung. Als es ans Abmischen ging, waren auch Daniel und ich müde. Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir den ersten Track abmischten. Ich glaube, es war der Titelsong, Black Celebration. Wir waren sicher, dass der Mix gut geworden war, aber dann gab jeder seinen Kommentar dazu ab, wir entschieden, dass er doch nicht gut war und versuchten es erneut und erneut ... und das ... nun, es trieb die Band in den Wahnsinn. Jeder war müde und wollte bloß das Album fertig haben. Ich erinnere mich, dass die Band ein Meeting hatte, und Alan sagte: 'Schaut, Jungs, wir müssen uns am Riemen reißen, denn diese Platte muss fertig werden! Wir müssen uns vorwärts bewegen.' Ich habe die Aufnahmen durchaus als klaustrophobisch und manchmal auch als düster empfunden, aber es war auch eine wundervolle, kreative Erfahrung. Denn ich denke, in gewisser Weise waren die Klaustrophobie und die angespannte Atmosphäre gut für die Arbeit."[39]
Martin fand es anscheinend mitunter so unerträglich, dass er zwischenhinein
für eine Woche verschwand und damit wildeste Spekulationen auslöste. (Vor allem in
den Teenager-Magazinen.) "Ja, ja, ich bin ausgeflippt." (lacht) "Dieses Geschäft geht
einem manchmal auf die Nerven, und ich musste für ein paar Tage raus. Wir hatten
viel zu tun, das ist viel Stress, und ich bin auch noch gerade dabei umzuziehen."
(Er zog von Berlin zurück nach London.)
Dave: "Ich denke, es tut gut, mal auszuflippen. Ich wäre es fast, als wir unser
letztes Album aufgenommen haben. Ich bin umgezogen, hatte einen schlimmen Autounfall,
und an dem Punkt dachte ich: 'Das ist es, es ist vorbei.'" 1990 erzählt er,
der Unfall sei passiert, als jemand vor ihm ausparkte, und er in den anderen Wagen
hinein rauschte. Er verletzte sich dabei, besonders seine Knie.
Alan: "Ich bekomme nie einen Koller, aber trotzdem befinde ich mich in einem
permanenten Zustand des Ausflippens. Die meiste Zeit weiß ich nicht, wer ich bin."[40]
So endete das Jahr mit kleineren und größeren Unstimmigkeiten.
Dave: "Wenn es jemals einen Punkt gab, uns aufzulösen, war es Ende 1985.
Wir haben uns ständig gestritten. Sehr intensiv. Wir wussten nicht, was wir nach
Some Great Reward machen sollten, also beschlossen wir, die Dinge langsamer
anzugehen. Dadurch hatten wir aber mehr Zeit, und diese Zeit verbrachten wir damit,
uns zu streiten. Manchmal scheint es unglaublich, dass wir diese Phase überlebt haben
und wir überdies nicht verrückt geworden sind."[41]
Fletch hatte sogar eine dunkle Vorahnung: "Ab Black Celebration hatte
ich das Gefühl, dass die Band jeder Zeit auseinanderbrechen könnte."[42]
Auch ich würde - nach dem Studium all dieser Interviews - sagen, dass 1985
der Zeitpunkt war, als die Zündschnur an dem Fass angebracht wurde, das acht Jahre
später bei der Devotional-Tour explodieren würde. Der Eindruck, der sich bei einigen
Interviews aufdrängt, ist ein Mangel an echter Kommunikation zwischen den Bandmitgliedern.
Es wurde viel geredet, aber wenig ausgesagt. Inzwischen hatten sie eine sehr straffe
Rollenaufteilung (mehr dazu im nächsten Kapitel), sprachen aber offenbar nicht über
mögliche Probleme, die dadurch verursacht wurden.
Alan sieht 1985 jedoch nicht als Ausgangspunkt für die späteren Schwierigkeiten:
"Innerhalb einer Zeitspanne von 13 Jahren gibt es in einer Band immer Zeiten höchster
Spannung. Ich würde sagen, dass die Dinge nach den Aufnahmen zu Black Celebration
etwas schwierig waren - würde es aber nicht als Anfang vom Ende sehen."[43]
Es scheint, als hätten die Probleme vor allem auf der menschlichen Seite bestanden
und weniger auf dem musikalischen Aspekt, denn sie waren alle recht zufrieden mit
der Entwicklung, die sie genommen hatten. Man kann vielleicht sogar sagen, dass
DM mit Black Celebration überhaupt erst richtig anfing, obwohl - oder
vielleicht gerade weil - dieses Album "das Ende einer musikalischen Ära markierte und
das Fazit einer (Leid)geprüften Produktion darstellte." Seit 1983 hatte Alan
versucht, die Musik von den frühen Popwurzeln wegzuführen, um "eine dunklere Welt zu
umarmen." Somit war Black Celebration das letzte DM-Album, das "den 'wir sampeln
absolut alles und jeden'-Gedanken erfüllte, wenngleich Alltagsgegenstände als
Musikinstrumente auch später nicht gänzlich verschwinden würden."[44]
Martin: "Es war der Zeitpunkt, ab dem sich die Alben wirklich anfingen, zu
entwickeln. Ich fühlte mich sehr frei. Ich schrieb das Album in Berlin, und wir alle
fingen an, schwarz zu tragen. Wenn wir jetzt da sind, werden wir immer noch von den
Fans verfolgt, die wir The Black Swarm nennen. Wenn man morgens in den Fitnessraum geht,
warten sie in der Lobby auf einen und folgen einem."[45]
(Übrigens - ich wurde von einem sehr jungen Leser gefragt, warum die meisten DM-Fans
schwarz tragen. Nun, dies ist die Antwort: Die Band fing an, schwarz zu tragen und
brachte Black Celebration heraus. Damit war der Black Swarm geboren. Bis heute
ziehen sich Fans damit gegenseitig auf, wenn Blind Dates - vor allem auf DM-Partys
und DM-Konzerten - arrangiert werden. "Woran werde ich dich erkennen?" - "Ich werde
ein schwarzes Kleid tragen." Allerdings ist es heutzutage längst nicht mehr so,
dass DM-Konzerte wie eine Ansammlung Schwarzuniformierter aussehen.)
Alan: "Ich denke, zu dem Zeitpunkt, als wir bei Black Celebration
angelangten, bekamen die Songs wirklich Tiefe. Das lag zum Teil an den Songs selbst,
und zum Teil daran, weil Martin sich zu einem sehr viel weltlicheren Songwriter
entwickelte, was sich mit meinem Einfluss mischte, einen düsteren Sound kreieren
zu wollen."[46]
Quellenangaben:
[1] Entnommen aus: The Last of the Futurists, Record Mirror, 25.05.1985. Autor: Betty Page.
[2] Entnommen aus: Boys on Film, Melody Maker, 15.04.1989. Autor: Francesco Adinolfi.
[3] Recoil.co.uk
[4] Entnommen aus: Boys Keep Swinging, No. 1, 19.01.1985. Autor: Max Bell.
[5] Entnommen aus: Fake the Disease, NME, 05.10.1985. Autor: Danny Kelly.
[6] Entnommen aus: Depeche Mode: A Short Film, EPKMUTEL5, Regisseur: Sven Harding.
[7] Entnommen aus: The Last of the Futurists, Record Mirror, 25.05.1985. Autor: Betty Page.
[8] Entnommen aus: The Unlikely Lads, Q, April 1989. Autor: Mat Snow.
[9] Entnommen aus: Depeche Mode Hip it up and Start Again, Melody Maker, 10.03.1990. Autor: Jon Wilde.
[10] Entnommen aus: Violator, Alligator, NME, 07.07.1990. Autor: Jeff Giles.
[11] Entnommen aus: The Story Of Depeche Mode, BBC Radio London Live94.9, 07.05.2001. Produzent: Tony Wood.
[12] Recoil.co.uk
[13] Entnommen aus: Martin Gore: The Decadent Boy, No. 1, 11.05.1985. Autor: Martin Lee Gore.
[14] Entnommen aus: Are Depeche Mode Cracking up?, Smash Hits, 09.-22.10.1985. Autor: Chris Heath.
[15] Entnommen aus: Fake the Disease, NME, 05.10.1985. Autor: Danny Kelly.
[16] Entnommen aus: Depeche Mode Hip it up and Start Again, Melody Maker, 10.03.1990. Autor: Jon Wilde.
[17] Entnommen aus: Fake the Disease, NME, 05.10.1985. Autor: Danny Kelly.
[18] Entnommen aus: Coming up Smiling, The Face, Februar 1985. Autor: Sheryl Garratt.
[19] Entnommen aus: The Normal Invasion, The Hit, 28.09.1985. Autor: Marc Issue.
[20] Entnommen aus: Boys Keep Swinging, No. 1, 19.01.1985. Autor: Max Bell.
[21] Entnommen aus: Aces High, Zig Zag, August 1985. Autor: William Shaw.
[22] Entnommen aus: Basildon Bond, Blitz, April 1986. Autor: Bruce Dessau.
[23] Recoil.co.uk
[24] Entnommen aus: Are Depeche Mode Cracking up?, Smash Hits, 09.-22.10.1985. Autor: Chris Heath.
[25] Entnommen aus: I Love the Idea of Wearing Leather and I Love the Idea of Being Tied up, Because I Love the Feeling of Helplessness ..., Record Mirror, 08.02.1986. Autor: Nancy Culp.
[26] Entnommen aus: Are Depeche Mode Cracking up?, Smash Hits, 09.-22.10.1985. Autor: Chris Heath.
[27] Entnommen aus: Coming up Smiling, The Face, Februar 1985. Autor: Sheryl Garratt.
[28] Entnommen aus: Are Depeche Mode Cracking up?, Smash Hits, 09.-22.10.1985. Autor: Chris Heath.
[29] Entnommen aus: Alan Wilder: The Band Boy, No.1, 25.05.1985. Autor: Alan Wilder.
[30] Recoil.co.uk
[31] Recoil.co.uk
[32] Entnommen aus: Ask Alan, Bong 16, April 1992. Autor: Alan Wilder.
[33] Entnommen aus: Everything Counts (in Large Amounts), Number One, 19.10.1985. Autor: Paul Bursche.
[34] Entnommen aus: Are Depeche Mode Cracking up?, Smash Hits, 09.-22.10.1985. Autor: Chris Heath.
[35] Entnommen aus: Ask Andy, Bong 17, Juli 1992. Autor: Andrew Fletcher.
[36] Entnommen aus: The Singles 86-98 by Martin Gore, Bong 37, September 1998. Autor: Martin Lee Gore. Zusammengestellt von Michaela Olexova.
[37] Recoil.co.uk
[38] Entnommen aus: Just Can't Get Enough, Uncut, Mai 2001. Autor: Stephen Dalton.
[39] depechemodebiographie.de
[40] Entnommen aus: Are Depeche Mode Cracking up?, Smash Hits, 09.-22.10.1985. Autor: Chris Heath.
[41] Entnommen aus: Depeche Mode, Published by HMV / Melody Maker, 22.09.1990. Autor: unbekannt.
[42] Entnommen aus: They Just Couldn't get Enough, Q, März 1997. Autor: Phil Sutcliffe.
[43] depechemodebiographie.de
[44] Recoil.co.uk
[45] Entnommen aus: User's Guide: Depeche Mode, Kingsize, Mai 2001. Autor: unbekannt.
[46] Entnommen aus: Songs of Praise and Emotion, Blue Divide, Volume 2, Issue 1, 2000. Autor: unbekannt.